Wie WWE ein Superstar entging
Das nackte Ergebnis des Millionen-Pokers um Kenny Omega, die Young Bucks (Nick und Matt Jackson) und Hangman Page alias The Elite mutet auf den ersten Blick nicht spektakulär an. (NEWS: Alle Neuigkeiten zum Thema AEW)
Wer die Vorgeschichte allerdings kennt, weiß, dass AEW-Boss Tony Khan mit der am Mittwoch verkündeten Personalie kein kleiner Coup gelungen ist.
Der boomende Marktführer WWE war höchst begierig darauf, dem Konkurrenten nach der Verpflichtung des vierten Gründervaters Cody Rhodes im vergangenen Jahr den nächsten, noch schmerzhafteren Hieb zu versetzen.
Ein neuer Hintergrund-Bericht verdeutlicht nun: Das Imperium der McMahon-Familie hatte durchaus gute Chancen. Und mindestens ein Mitglied des Quartetts war einem Wechsel zwischenzeitlich offenbar zugeneigt.
WWE wollte vor allem Kenny Omega
Wie Szene-Guru Dave Meltzer schon vorher berichtet hatte, war WWE vor allem an dem früheren World Champion Omega interessiert und hätte sich auch „gute Chancen“ ausgerechnet.
In seinem aktuellen Wrestling Observer Newsletter ergänzt Meltzer unter Berufung auf eine mit dem WWE-Interesse vertraute Person: Für den 39 Jahre alten Kanadier Omega - profiliert vor allem wegen seiner herausragenden „Big Matches“ - wäre ein Platz in der Liga von „Roman Reigns, Cody Rhodes, Seth Rollins und Brock Lesnar“ reserviert gewesen. Den vier Topstars der Liga. Meltzer beschreibt Omega als „Nummer 1 auf der Most-Wanted-Liste“ von WWE. (HINTERGRUND: Wie der junge Kenny Omega von WWE verprellt wurde)
Was allerdings zu beachten war: Die vier befreundeten Free Agents in spe hatten - wie sie auch selbst bestätigt haben - einen Musketier-Pakt geschlossen: Einer für alle, alle für einen. Entweder würden alle bei AEW bleiben - oder alle wechseln.
Dieser Entschluss setzte beiden unter Zugzwang: WWE hätte nicht nur Omega, sondern auch seine drei Mitstreiter für sich gewinnen müssen. Noch mehr unter Druck war AEW, das mit einem Schlag vier Topstars, Führungskräfte (Omega und die Bucks sind auch Vizepräsidenten der Liga) und Identifikationsfiguren zu verlieren drohte - war vor dem Hintergrund des ungelösten Konflikts der Elite mit Liga-Aushängeschild CM Punk für zusätzliche Verstrickungen hätte auslösen können.
The Elite hielt sich an Pakt: Alle bleiben bei AEW - oder alle gehen
Das Prozedere, auf das sich das Quartett geeinigt hätte: Alle vier sollten für sich zwischen AEW und WWE auswählen, dem Mehrheitsvotum würde sich die Minderheit dann beugen, wenn es eine geben sollte.
Mindestens zwischenzeitlich gab es auch eine Minderheit, die es zu WWE gezogen hätte: „Du wärst wahrscheinlich überrascht gewesen, wer für wen gestimmt hat“, zitiert Meltzer ein ungenanntes Mitglied der Vierergruppe.
Letztlich sei die Angelegenheit allerdings im Fluss gewesen: Omega und Co. hätten monatelang ihre Optionen geprüft „und die Voten haben sich geändert, auf Grundlage temporärer Emotionen“, so Meltzer. Was letztlich den Ausschlag gab - so wie von den vier Wrestler auch selbst in Sports Illustrated verdeutlicht: ein gutes Angebot Khans und vor allem auch der weniger terminreiche Tourplan von AEW.
Bei Sports Illustrated betonten alle vier, dass ihnen AEW mehr wertvolle Zeit für die Familie lasse - beziehungsweise im Fall des alleinstehenden Omega für andere Projekte: Der passionierte Gamer, dessen Charakter inspiriert ist von den Videospielreihen Final Fantasy und Resident Evil, ist auch federführend beteiligt an dem AEW-Spiel Fight Forever.
WWE waren die Hände gebunden
Bemerkenswert: Die Verträge des Quartetts wären allesamt erst gegen Ende des Jahres ausgelaufen. Es war ihnen also untersagt, direkt mit WWE zu verhandeln.
Zwar soll erst in jüngerer Vergangenheit in mehreren Fällen vorgekommen sein, dass WWE AEW-Stars trotz laufender Verträge umgarnt hat. Dass WWE es auch diesmal getan hat, ist unwahrscheinlich: WWE soll vorsichtiger geworden sein, sich juristisch nicht angreifbar zu machen, seit die kleine Liga MLW eine Klage mit kartellrechtlichen Implikationen gegen den Branchenführer eingereicht hat.
Dass The Elite AEW den Zuschlag gab, bevor WWE ein konkretes Gegenangebot machen konnte, spricht dafür, dass Khan viel Geld in die Hand genommen hat.
Dafür spricht auch eine von Meltzer zitierte Einschätzung des Agenten Barry Bloom: Er soll den Bucks mitgeteilt haben, dass sie seines Wissens nach den finanziell umfangreichsten Deal abgeschlossen haben, den je ein Tag Team im Wrestling bekommen hat. Sie sind demnach jetzt also auch besser bezahlt als die legendären „Outsiders“ Kevin Nash und Scott Hall, nachdem WCW sie 1996 mit dem Geld von Multimilliardär Ted Turner von WWE abwarb (wenngleich die Inflation wohl nicht berücksichtigt ist).
Strippenzieher Bloom ist innerhalb der Szene ein bekannter Name: Er vertritt auch Chris Jericho und Legende Bill Goldberg - der aktuell selbst Free Agent ist und dessen Name von Khan zuletzt auffällig oft in den Mund genommen wurde. Zu Blooms früheren Klienten zählt auch der heutige WWE-Lenker „Triple H“ Paul Levesque.
AEW soll mittlerweile 1 Milliarde Dollar wert sein
Tony Khan, Sohn des Autoteile-Milliardärs und Sportmoguls Shahid Khan (Jacksonville Jaguars, FC Fulham) kann sich große Investitionen in Stars mittlerweile nicht nur aufgrund des Familienvermögens leisten: Das Business-Fachportal Sportico berichtet, dass AEW laut Einschätzung von Finanzexperten mittlerweile eine Milliarde Dollar wert ist. So hoch ist erklärtermaßen auch das anvisierte Volumen des bald auszuhandelnden, neuen TV-Vertrags mit Medienriese Warner Bros. Discovery.
Über die Laufzeit der neuen Elite-Verträge herrscht Stillschweigen, Gerüchten zufolge laufen sie je vier Jahre. Page schien dies am Mittwoch bei der 200. Ausgabe der TV-Show Dynamite zu bestätigen, als er „auf 200 weitere Shows“ anstieß, was diesen Rahmen abdecken würde,
Laut Meltzer waren die Deals schon länger unterschrieben, Khan jedoch hätte es geheim gehalten, um erst am Tag des festlichen Anlasses mit der guten Nachricht an die Öffentlichkeit zu gehen. Der Tag fiel auch strategisch günstig in die „Hot Week“ vor dem WWE Summer Slam, in der sich die Aufmerksamkeit sonst auf den Sommerhöhepunkt des Konkurrenten fokussiert.
Die Klärung der wichtigsten Personalie des Jahres verschafft AEW auch Rückenwind vor dem eigenen, noch größeren Sommer-Highlight: Der historischen Show All In am 27- August im Londoner Wembley-Stadion, wo AEW vor einer Mega-Kulisse von rund 80.000 Fans eine der größten Wrestling-Shows der Geschichte auf die Beine stellen wird.