Wer professionellen Radsport betreibt, setzt sein Leben aufs Spiel. Jeder weiß es, muss es wissen.
Eine schwarze Nacht des Radsports
Bei Straßenrennen erinnerten zuletzt immer wieder tödliche Unfälle an die oft verdrängte Gefahr: Gino Mäder, André Drege, Muriel Furrer. Im Bahnrad-Sport passierten Tragödien dieser Art seltener - eine der wenigen, die in den vergangenen Jahrzehnten passierte, ist dafür umso beklemmender.
Beim traditionsreichen Sechstagerennen in Gent ereignete sich heute vor 18 Jahren ein verheerender Unfall, der nicht nur einen damals amtierenden Weltmeister jung aus dem Leben riss, sondern auch das eines überlebenden Kollegen zerstörte.
Von der „traurigsten Geschichte des Radsports“ schrieb das Magazin Gran Fondo vor einigen Jahren.
Tragödie beim Sechstagerennen von Gent
Das Unglück ereignete sich in der Nacht vom 25. auf den 26. November 2006, beim Madison-Rennen, dem Zweier-Mannschaftsfahren.
Unter den Teilnehmern im Velodrom Kuipke (zu Deutsch: kleine Wanne, Wännchen) war eines der besten Duos der Disziplin, die beiden Spanier Isaac Gálvez und Joan Llaneras, die sieben Monate zuvor bei der WM in Bordeaux zum zweiten Mal Weltmeister geworden waren.
Der damals 31 Jahre alte Gálvez war auch auf der Straße kein Unbekannter: Der Katalane gewann diverse Eintagesrennen und war mehrfach Teilnehmer beim Giro d‘Italiia und der Tour de France - wo er 2005 und 2006 Zuarbeiter von Alejandro Valverde im damaligen Team Illes Baleares (heute: Movistar) war.
Am Ende der Saison gab es für Galvéz auch ein privates Großereignis: Er heiratete. Rund einen Monat später fuhr er in Gent in den Tod.
Weltmeister Isaac Gálvez verblutet nach Rennunfall
Gegen 0.30 Uhr stieß Gálvez bei einer verhängnisvollen Kollision mit dem belgischen Lokalmatador Dimitri De Fauw zusammen und prallte gegen den Außenzaun der Strecke.
Gálvez wurde an Ort und Stelle reanimiert und in das örtliche Universitätsklinikum gebracht. Dort konnte nur noch sein Ableben festgestellt werden: Er hatte sich Rippenbrüche zugezogen, die Knochen bohrten sich durch Herz und Lunge, Gálvez verblutete innerlich.
„Wir haben einen großartigen Radsportler und großartigen Menschen verloren“, sagte Fulgencio Sánchez, ehemaliger Spitzenfahrer und damals Präsident des spanischen Radsportverbands, bei Gálvez‘ Beerdigung.
Der Tod des viel dekorierten Bahnrad-Spezialisten zerrüttete dabei nicht nur das Leben seiner Angehörigen, sondern auch das des an der Kollision beteiligten De Fauw.
Konkurrent De Fauw erkrankt an Depressionen
Der damals 25-Jährige war ein Jungstar im radsportvernarrten Belgien, gewann zahlreiche nationale Meistertitel auf der Bahn, im Juniorenbereich feierte er im Duo auch an der Seite von Iljo Keisse Erfolge - dem erfolgreichsten belgischen Bahnradfahrer seiner Zeit, später auch eine Weile Zweier-Partner von Deutschlands Top-Fahrer Robert Bartko.
De Fauw und Keisse gewannen Anfang 2004 unter anderem auch die Nachwuchskonkurrenz des Sechstagerennens von Berlin - und beeindruckten dabei auch die im Publikum sitzende belgische Bahnrad-Ikone Patrick Sercu: „Ihnen gehört die Zukunft“, schwärmte Sercu in der BZ über die beiden miteinander befreundeten Arbeiterkinder.
Kraftpaket De Fauw - Spitzname: „Tarzan“ - litt schwer an Gálvez‘ Tod, erkrankte an Depressionen. In diversen Interviews legte er ein bitteres Ringen mit persönlichen Schuldgefühlen offen - trotz zahlloser Versicherungen, dass es ein schicksalhafter Rennunfall war, auch von der ermittelnden Staatsanwaltschaft.
De Fauw dachte ans Karriere-Ende, Kollegen und Familie ermutigten ihn aber zur Rückkehr: „Verliert ein Kampfpilot einen Kollegen, muss auch er sofort wieder ins Flugzeug: auf zu einer anderen Mission. Sonst traut er sich später vielleicht nicht mehr zu fliegen“, berichtete er 2008 im belgischen Magazin Humo.
Suizid kurz vor Galvéz drittem Todestag
Die weitere Karriere De Fauws verlief wechselhaft, auf der Bahn gewann er noch zwei nationale Meistertitel, auf der Straße entwickelte sich die Laufbahn des früheren Quick-Step-Fahrers schon vor der Tragödie nicht wie erhofft. 2007 trennte sich sein Team Chocolade Jacques von ihm. „Sie haben keinen Augenblick darüber nachgedacht, was ich durchgemacht habe“, blickte De Fauw im Jahr darauf zurück.
Zum damaligen Zeitpunkt jährte sich Galvéz‘ Tod zum zweiten Mal. De Fauw bekundete die Hoffnung, dass die Rückkehr in die Kuipke ihm helfen würde, Frieden zu finden: „Hoffentlich kann ich nach den Sechs Tagen von Gent auch Isaac hinter mir lassen und ihn ruhen lassen. Es ist Zeit. Wenn ich mit 75 km/h auf winzigen Reifen umher rase, will ich an nichts mehr denken müssen. Solange das Rennen dauert, muss ich mich unsterblich fühlen.“
Knapp ein Jahr später, am 6. November 2009, wenige Wochen vor Gálvez‘ drittem Todestag, nahm sich Dimitri De Fauw mit 28 Jahren das Leben. Es war fünf Tage vor dem Suizid von Robert Enke.
Am 24. November 2009 kehrten die Kollegen zurück an den Schicksalsort von Gent. Es gab eine Schweigeminute für De Fauw. Idol Sercu, Weggefährte Keisse, der mit den Tränen kämpfende Robert Bartko und der Rest des Fahrerfelds zollten ihm Tribut, das Publikum erhob sich für stehende Ovation.
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Anmerkung der Redaktion: Wenn Sie sich selbst von Depressionen und Suizidgedanken betroffen fühlen, kontaktieren Sie bitte umgehend die Telefonseelsorge (http://www.telefonseelsorge.de). Unter der kostenlosen Hotline 0800-1110111 oder 0800-1110222 erhalten Sie Hilfe von Beratern, die schon in zahlreichen Fällen Auswege aus schwierigen Situationen aufzeigen konnten.