Am Ende bekamen die Zuschauer dann doch noch eine Ahnung, dass auch Wout van Aert ein menschliches Wesen ist.
„Da fährt ein Wolf mit acht Schafen“
Kurz vor dem Ziel der sechsten Etappe der Tour de France am legendären Tourmalet ging dem vorher unermüdlichen belgischen Edelhelfer von Jonas Vingegaard beim Rennstall Jumbo-Visma die Puste aus.
Ebenso wenig wie Vingegaard konnte er etwas ausrichten gegen die Konter-Attacke, mit der Tadej Pogacar den Titelverteidiger und Spitzenreiter überraschte und damit viele wertvolle Sekunden abnahm.
Trotzdem: Wie furios Allround-Könner van Aert sich bis dahin als Kopf der Ausreißergruppe für Vingegaard aufgeopfert hatte, ließ Radsport-Fans und -Experten in Ehrfurcht erstarren.
Wout van Aert: „Er ist ein absolutes Biest“
„Dieser Typ ist ein absolutes Biest“, staunte George Hincapie, der einstige Wasserträger Lance Armstrongs - mit dessen Staunen es aufgrund der Geschichte von Armstrong und seinem Helfer-Clan natürlich so eine Sache ist.
Ebenso wie mit dem Staunen von Armstrongs alten Teamchef Johan Bruyneel, der van Aerts Performance im Podcast des über sein Doping-System gestürzten Ex-Rekordsiegers „verrückt, verrückt, verrückt“ nannte. (Jan Ullrich und Lance Armstrong: Ihre Rivalität, ihr Absturz)
Bei Eurosport wagte der einstige deutsche Dauerbrenner Jens Voigt derweil eine Expedition ins Tierreich, um van Aert einzuordnen: „Da fährt ein Wolf mit acht Schafen. Und der Wolf kann ja nicht die Schafe fragen, was zu tun ist. Er fährt einfach los.“
Poetisch wurde auch Ex-Fahrer Steve Chainel: „Van Aert hat seine Feuerbeine aus dem Jahr 2022 zurückgewonnen.“
Auch Pogacar voller Ehrfurcht
Am Donnerstag reichten van Aerts Feuerbeine nicht, um den von seinem Team ausgeheckten Plan zu vollenden, den am Vortag weit zurückgefallenen Pogacar den K.o.-Hieb zu verpassen: Pogacar schlug zurück, was Fragen an die Strategen von Jumbo-Visma aufwarf - aber nicht schmälerte, wie van Aert seine Aufgabe als Tempomacher erfüllte.
Auch Pogacar nannte van Aert „unglaublich“, er sei „so schnell wie ein Auto“ gewesen: „Hätte ich einen Meter am Tourmalet gelassen, hätte ich ein großes Problem gehabt.“
Am Donnerstag hat Pogacar das Problem gelöst, es bleibt aber die Frage, ob er es dauerhaft lösen kann.
Schlüsselrolle bei Vingegaards Tour-Sieg 2022
Der 28 Jahre alte 1,90-Meter-Mann van Aert hat sich schon im vergangenen Jahr als Phänomen erwiesen: Auf den Flachetappen holte er sich das Grüne Trikot und legte gleichzeitig für einen Fahrer seines Gewichts irrwitzige Bergfahrten hin.
Van Aerts Rolle bekam im Vorfeld der Tour 2023 zusätzliche Aufmerksamkeit durch die Netflix-Doku „Im Hauptfeld“, die den Eindruck erweckte, dass es dabei einen Konflikt zwischen van Aert und Vingegaard gegeben hätte - und Vorwürfe, dass van Aert zu sehr auf eigene Rechnung und zu wenig im Sinne des Teams operiert hätte.
Alles aufgebauscht, versicherten im Vorfeld der Tour beide - und van Aert wirkt in diesem Jahr nochmal zusätzlich motiviert, es seinen Kritikern zu zeigen.
Nach der Tourmalet-Etappe knöpfte er sich zugleich Zweifler vor, die ihn in diesem Jahr nicht in derselben Form sahen wie 2022.
„Gestern habe ich die Leute sagen gehört, ich hätte nicht mehr die Beine von früher“, sagte er seinem Heimatmedium Sporza: „Ich denke, diese Leute wissen nicht viel über Radsport.“
Nächste Show am erloschenen Vulkan?
Am Sonntag geht in der nächsten Bergetappe der Zweikampf zwischen Pogacar und Vingegaard in die nächste Runde.
Es geht nach 35 Jahren wieder an den mythischen Puy de Dome, den erloschenen Vulkan, wo der große Eddy Merckx einst einen Faustschlag eines Zuschauers kassierte.
Wout van Aert, der rasende Wolf mit den Feuerbeinen, wird wieder alles tun, um den Vulkan zum brennen zu bringen.