Völlig absurd und an den Haaren herbeigezogen - oder doch plausibel und nachvollziehbar? Nachdem Jannik Sinner zweimal positiv auf Doping getestet und bei dem Tennis-Star das anabole Steroid Clostebol nachgewiesen worden ist, bleiben die Hintergründe dazu höchst undurchsichtig.
Sinner: Dieses Foto erregt Aufsehen
Durch ein in Italien frei verkäufliches Spray seines Physiotherapeuten Giacomo Naldi zur Behandlung von dessen Schnittwunde soll das Doping-Mittel in Sinners Blutkreislauf gelangt sein - weshalb der Weltranglisten-Erste von einem privatwirtschaftlichen, von der Tennis-Antidopinginstanz ITIA angerufenen Tribunal zunächst freigesprochen wurde.
Nun berichtet die Gazzetta dello Sport über ein im Netz kursierendes Foto, das diese Argumentation im Sinne Sinners stützen soll.
Wirbel um Screenshot von Sinner-Physiotherapeut
Es ist ein Screenshot einer TV-Übertragung, der Naldi während des ATP-Turniers in Indian Wells im vergangenen März auf der Tribüne mit einem Pflaster am kleinen Finger der linken Hand zeigt. Die Aufnahme soll belegen, dass sich der Physiotherapeut an dem Tag, an dem Sinner erstmals positiv getestet worden war (10. März), tatsächlich eine Schnittwunde zugezogen hatte, die er dann mit der verbotenen Substanz kontaminiert haben soll.
Dem Bericht zufolge stütze dies auch eine Aussage Naldis, wonach der sich zunächst selbst verletzte, als er mit einer Zange Narben an Sinners Fuß behandelte und sich ohne Handschuhe seine Schnittwunde medizinisch mit besagter Salbe versorgte. Aus den vollständigen Verfahrensakten geht auch hervor, dass Sinner den Masseur nach Angaben seiner Verteidigung anfangs proaktiv gefragt hätte, ob die Gefahr einer Doping-Kontamination durch die Wunde bestehe - ein entscheidender Punkt in seiner Entlastungsstrategie.
Den Tribunalakten zufolge soll Naldi sich die Schnittwunde am 3. März zugezogen haben und ab dem 5. März mit dem belasteten Spray behandelt haben - während er Sinner bis zum 13. März täglich massiert hätte. Sinner wurde am 10. März, nach seinem Sieg über Jan-Lennard Struff erstmals positiv getestet, am 18. März zum zweiten Mal. Naldi trug die Bandage in Indian Wells nicht an allen Tagen, wie weitere Fotos zeigen, die der US-Journalist Ben Rothenberg aus den Übertragungsstreams zusammengetragen hat.
Die Gazzetta ging sogar soweit, das auf dem Foto sichtbare Pflaster an Naldis Finger als „Beweis“ und „klares Zeichen“ für Sinners Unschuld anzuführen, das verbotene Mittel nicht vorsätzlich verwendet zu haben.
Doping-Experte Sörgel hegt starke Zweifel
Der deutsche Doping-Experte Prof. Dr. Fritz Sörgel hat in dieser Hinsicht starke Zweifel: Im SPORT1-Interview erklärte der anerkannte Pharmazeut und Pharmakologe: „Ein Anabolika-Spray für eine Wundbehandlung - lächerlich! Das Anti-Doping-Gesetz (in Deutschland, Anm. d. Red.) würde das gar nicht zulassen. Bei einer Wunde stehen andere Substanzen wie Antibiotika im Vordergrund.“
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Sörgel sieht keine Gewissheit, dass Sinner bzw. sein Betreuerteam arglos gehandelt hätten: Er glaubt, dass „dieses Spray gezielt für den Hochleistungssport auf inoffiziellen Wegen und im Internet vertrieben“ wird: „Weil es ein Dopingmittel ist und man - wie in diesem Fall - auch immer auf Unschuld ‚kein Doping‘ plädieren kann.“ Clostebol hat in den vergangenen Jahren für diverse positive Dopingtests im italienischen Sport gesorgt - die oft ähnlich erklärt worden waren wie die von Sinner. Eine junge Tennisspielerin etwa erklärte, dass ihr Positivtest auf das Streicheln eines Chihuahuas zurückzuführen sei, der mit dem Wundspray behandelt worden sei.
Der 74 Jahre alte Sörgel fügte an: „Wenn jemand eine Schnittwunde hat, wie es bei dem Physio von Sinner der Fall gewesen sein soll, dann schmiert man die Salbe ja nicht pfundweise drauf. Sondern eher dünn. Auch wenn er ihn jeden Tag massiert, halte ich es für sehr unwahrscheinlich, dass das Clostebol in solchen Mengen durch die Haut eindringt, dass es im Dopingtest auffällt.“
Die Welt-Anti-Doping-Agentur WADA kündigte inzwischen an, man wolle die Entscheidung im Fall Sinner zunächst „sorgfältig prüfen“. Die im kanadischen Montréal ansässige Organisation erklärte dazu, sie behalte sich das Recht vor, gegebenenfalls Berufung beim Internationalen Sportgerichtshof in Lausanne einzulegen.
Bemerkenswert: Die Italienische Anti-Doping-Agentur blieb eine Reaktion vorerst schuldig - auch sie könnte gegen die Entscheidung Berufung einlegen.