Alles deutete auf der 18. Etappe auf einen Massensprint hin. Knapp 80 Kilometer vor der Ziellinie hatte das Hauptfeld nur rund 40 Sekunden Rückstand auf die drei Ausreißer Kasper Asgreen, Jonas Abrahamsen und Victor Campenaerts.
Massiver Gegenwind für Sprintstar
Weil das Peloton aber dermaßen hart nachgeführt hatte, entstand für weitere Fahrer eine gute Möglichkeit, in die Spitzengruppe nach vorne zu springen. Das Alpecin-Deceuninck-Team von Jasper Philipsen und andere Sprintermannschaften erkannten die Gefahr zwar und machten sich auf der Straße breit, da war es jedoch bereits zu spät.
Erst attackierte Quentin Pacher (Groupama - FDJ) am kurzen Anstieg zum Côte de Boissieu erfolglos, dann trat auch Pascal Eenkhoorn von Lotto–Dstny an. Doch Philipsen passte das offenbar überhaupt nicht. Plötzlich spurtete der 25-Jährige dem Niederländer hinterher, warf ihm böse Blicke zu und drängte Eenkhoorn an den Straßenrand, um den Angriff zu stoppen.
Schnell machte sich Unverständnis wegen der fragwürdigen Aktion von Philipsen breit, der nicht zum ersten Mal negativ auffiel.
„Die Nerven liegen blank“
Auch Jens Voigt konnte dem unnötigen Abdräng-Manöver im Velo Club bei Eurosport wenig abgewinnen.
„Wenn man eine Nummer auf dem Rücken hat, darf man attackieren. Da gehört es sich für einen Weltklassefahrer wie Jasper Philipsen nicht, ihn zur Schnecke zu machen oder ihn irgendwie anzubrüllen und zu sagen: ‚Was machst du für einen Quatsch?‘“, sagte Voigt deutlich.
Das Team Lotto - Dstny habe mit Caleb Ewan seinen Sprinter bereits verloren und müsse „natürlich etwas unternehmen, wenn sie gewinnen wollen. Das muss Philipsen so hinnehmen“, ergänzte der Ex-Profi. Bereits während der Live-Übertragung kommentierte Bernhard Eisel: „Die Nerven liegen blank. Alle sind müde.“ Bei Philipsens Manöver gehe es um die „Einschüchterung der Gegner“.
Eisel vermutete, dass der Radsportweltverband UCI den Sprinter aus Belgien wegen seines Verhaltens verwarnen wird. „Da wird es noch Gespräche geben. Es ist noch im Graubereich. Eine Gelbe Karte hätte es in einer anderen Sportart aber gegeben“, stellte der Österreicher klar.
Brisant: Schon während der ersten Tour-Tage geriet Philipsen zunehmend in die Kritik. Sein Verhalten im Kampf auf den letzten Kilometern der Etappen ist umstritten, weil er sich oft am Rande des Erlaubten bewegte. Die Beschwerden von Experten und Konkurrenten werden immer lauter.
Die Profile der Etappen der Tour de France 2023 zum Durchklicken:
Philipsen: „Dachte, drei Ausreißer sind genug“
Nach der Zieldurchfahrt äußerten sich die beiden Hauptprotagonisten zu der umstrittenen Szene.
„Wenn wir Rennen fahren wollen, können wir Rennen fahren“, meinte Eenkhoorn in einem Interview bei NOS und attackierte zehn Kilometer später wieder - diesmal mit Erfolg.
Philipsen betonte beim belgischen Sender Sporza dagegen, dass er keine bösen Absichten gehabt habe. „Ich wollte den Sprint und dachte, drei Ausreißer sind genug. Das war nicht böse oder arrogant gemeint. Ich wollte aber einfach keine weiteren Fahrer in der Spitzengruppe“, erklärte der Träger des Grünen Trikots.
Am Ende konnten weder Eenkhoorn noch Philipsen triumphieren. Stattdessen gewann der Däne Kasper Asgreen den Schlussspurt der Ausreißergruppe, während sich Eenkhoorn mit Platz zwei begnügen musste.
Nur auf Rang vier spurtete Philipsen und verpasste damit vorerst seinen fünften Tagessieg bei der diesjährigen Frankreich-Rundfahrt.