Es ist eine EM der und für die Fans! Kaum ein Tag vergeht, an dem nicht Bilder von spektakulären Fanmärschen, XXL-Feiern und eskalierenden Fans auftauchen und viral gehen. Nicht nur die Schotten, Niederländer und Türken begeistern, sondern auch die Deutschen machen in Sachen Stimmung ordentlich Alarm.
„Mein Körper ist ein Wrack“
Vor allem wegen der beiden Vorsänger: Der Berliner Pasquale Seliger (36) und der in Münster geborene Bengt Kunkel (25) stehen mit Megafon in der Kurve und gehen beim Fanmarsch voran. In der Hoffnung: Alle anderen mit ihrer Energie anzustecken. Ihr klares Ziel: Die Fankultur der deutschen Nationalmannschaft umzukrempeln.
Pyrotechnik? „Lied zeigt, was möglich ist“
SPORT1: Hallo ihr zwei, erstmal was Leichtes zum Warmmachen: Pyrotechnik …
Kunkel: … ist doch kein Verbrechen!
Seliger: Das will ich bitte aus jeder Ecke des Stadions hören!
SPORT1: Hand aufs Herz: Nervt das nicht, dass ein Song, der mit dem DFB und der deutschen Nationalmannschaft gar nichts zu tun hat, dermaßen eingeschlagen hat?
Kunkel: Nein! Das Lied zeigt einfach, was möglich ist. Es zeigt, wo wir hinkommen wollen. Und zwar: Dass ganz Deutschland mitsingt. Unser Ziel ist es, gute Stimmung zu verbreiten und Menschen, die eigentlich überhaupt nichts mit Fußball am Hut haben, mitzureißen. Und wenn es dann „Pyrotechnik ist doch kein Verbrechen“ ist, ist das auch gut. Es geht ja nicht darum, den Inhalt gutzuheißen, sondern dass alle mitsingen können. Das Lied vereint die Nation.
„Was der Balkonultra damit geschaffen hat, sucht seinesgleichen“
SPORT1: Wie hat es dieser Song denn geschafft, so erfolgreich zu werden?
Kunkel: Was der Balkonultra damit geschaffen hat, sucht seinesgleichen. Aber auch das ging nicht von heute auf morgen. Der ist seit 2019/ 20 in den sozialen Netzwerken unterwegs und wurde viele Jahre extrem belächelt. Jetzt zur EM hat sich das Bild geändert und er ist einer der meistgefeierten Personen auf Social Media und hat das auch verdient. Ein Typ, der sein Herz am rechten Herz hat! Soll heißen: Songs brauchen einfach Zeit.
Seliger: 2006 hatten wir von Oliver Pocher „Schwarz und Weiß“, heute ist es eben „Pyrotechnik“. Fast schade, dass es nicht mehr Sachen gibt, die wir einfacher aufgreifen können.
SPORT1: Habt ihr denn einen Lieblingssong?
Kunkel: „Im Herzen von Europa“ ist ein Banger. Der gefällt auch den Leuten am meisten und macht sehr viel Spaß mitzusingen. Der Song ist genau das, wofür wir stehen: Gute Laune verbreiten, zusammen zu singen. Zudem ist er ein bisschen komplexer, als nur „Deutschland, Deutschland“ zu schreien. Auch wenn der Text noch etwas kompliziert ist, kreiert er, wenn alle ihre Fahnen schwenken, Gänsehaut pur.
Seliger: Unser Ziel ist es, diesen Song zu etablieren. Wir wollen ja auch eigenes Liedgut reinbringen. Die Fans und Songs der deutschen Nationalmannschaft waren in den letzten 30 Jahren so innovativ wie die katholische Kirche, da ist jetzt nicht allzu viel dazugekommen. Deshalb müssen wir da jetzt mal was tun. Aber auch die Nationalhymne ist mega. Das hat uns, ehrlich gesagt, überrascht, aber zeigt eben auch: Solange alle gemeinsam singen und mitmachen können, funktioniert es.
„Social Media spielt eine große Rolle“
SPORT1: Wie lehrt man die Fans neue Songs, die sie zuvor noch nicht gehört haben? Wie schwer ist das?
Kunkel: Leicht ist das nicht. In normalen Fanszenen ist das natürlich einfacher, weil alles mehr gebündelt ist. Bei der Nationalmannschaft kommen ganz verschiedene Menschen zusammen. Es gibt verschiedene Wege, Songs an die Frau oder an den Mann zu bringen. Social Media spielt eine große Rolle, aber auch einfach, Liedtexte ausdrucken und sie im Stadion zu verteilen. In den Spieltagsmagazinen liegen unsere Liedtexte jetzt auch immer häufiger bei. Das ist natürlich grandios. Aber noch mal: Das braucht alles extrem viel Zeit und geht nicht von heute auf morgen.
Seliger: Trotzdem ist unser ganz klares Ziel, dass jeder Fan im Block den Song „Im Herzen von Europa“ bis zum Finale draufhat.
SPORT1: Die Fans bei der EM, egal welcher Nation, sind einmalig. Wie nehmt ihr das wahr?
Seliger: Ich finde das einfach mega schön. Ich habe ja immer noch die Bilder aus Katar im Kopf mit den Fake Fans und da hat sich jeder gedacht: Was ist mit dem Fußball passiert? Wie kann man so seine Seele verkaufen? Das extreme Gegenbeispiel, wie es auch gehen kann: Beim Eröffnungsspiel in München sind gefühlt 200.000 Schotten da und singen. Wie geil ist das bitte? Ähnlich die Niederländer mit ihrem „von rechts nach links“. Ich finde, dass ist das, was eine Europameisterschaft ausmachen soll.
Andere Nationen machen es vor - „Haben einen weiten Weg vor uns“
SPORT1: Seid ihr auf Fans einer anderen Nation neidisch?
Kunkel: Überhaupt nicht! Neidkultur hat da überhaupt nichts verloren. Wir schauen uns natürlich an, was die Niederländer, Österreicher, Schotten oder auch Türken machen, und finden das gut. Diese Nationen zeigen uns, wohin es sich entwickeln kann. Aber wir sind da noch lange nicht. Dafür ist die Bewegung noch zu jung. Aber das ist komplett in Ordnung. Wir sind erst im Herbst mit den eigenen Fanklubs gestartet (seit November 2023 können sich eigene Fanklubs beim DFB registrieren, über 170 eigenständige DFB-Fanklubs haben sich schon angemeldet; Anm. d. Red.) und da können wir nicht einfach 25 Jahre wettmachen. Neid ist, wie gesagt, ein falsches Wort. Wir wollen gemeinsam feiern. Bei uns stand letztens ein Schotte in der ersten Reihe – Weltklasse!
SPORT1: Seid ihr beide die DFB-Capos?
Seliger: Wir nennen uns so nicht. Auch aus Respekt gegenüber der Ultraszene, wo der Begriff herkommt. Die stecken seit Jahrzehnten Herzblut und Leidenschaft in ihren Verein. Damit wollen wir uns nicht vergleichen.
SPORT1: Werdet ihr denn manchmal belächelt oder kritisiert?
Kunkel: Der Haupt-Kritikpunkt ist, dass wir Videos produzieren und unser Gesicht zeigen. Das ist natürlich ein anderer Weg im Vergleich zur Fußballkultur in Deutschland. Wir verstehen natürlich, dass das viele ablehnen. Aber beim DFB läuft eben vieles anders. Und die letzten Jahre hat es eben nicht funktioniert, deshalb sind wir jetzt einen anderen Weg gegangen. Viele werfen uns vor, dass wir uns selbst inszenieren wollen, aber darum geht es uns nicht. Uns war klar, dass wir Kritik bekommen werden. Ich habe mit deutlich mehr Kritikern als Befürwortern gerechnet. Aber das positive Feedback überwiegt deutlich.
SPORT1: Niclas Füllkrug hat sich vor der EM ja über die Stimmung beschwert und Vorsänger gefordert. Jetzt gibt es aber doch hauptsächlich Lob von den Spielern. Hat er sich jemals dafür entschuldigt oder habt ihr Feedback aus der DFB-Elf erhalten?
Kunkel: Aus den Spielerkreisen jetzt noch nicht. Aber wir bekommen natürlich mit, was Spieler nach den Partien in der Interviews sagen. Persönliche Nachrichten haben wir noch nicht bekommen aber sehen natürlich alles auf Social Media. Schlotterbeck hat erst kürzlich ein Reel von uns gelikt, Lars Stindel hat auf meinen Aufruf „Alle in Weiß nach Stuttgart“ reagiert. Das ist natürlich schon sehr cool und fühlt sich gut an. Am Ende sind wir ja auch nur Fans, die, vor allem als wir klein waren, zu diesen Spielern aufgeguckt haben.
Seliger: Vereinsfarben spielen übrigens überhaupt keine Rolle bei uns. Unser großer Wunsch ist es, dass Fans, Verband und Mannschaft wieder eins werden. Da haben wir noch einen weiten Weg vor uns.
„Ich habe seit drei Wochen Gänsehaut“
SPORT1: Ihr steht ja immer in der ersten Reihe, gebt Lieder und Takte vor. Was ist euer absoluter persönlicher Gänsehaut-Moment?
Kunkel: Da gibt es ganz viele. Ich erinnere mich an das Eröffnungsspiel in München, als ich das erste Lied „Steht auf, wenn ihr Deutschland seid“ angestimmt habe und das ganze Stadion mitgemacht hat. Das war einfach nur verrückt. Oder auch in Dortmund, als ich auf die gelbe bzw. an diesem Tag weiße Wand gucke und 25.000 Menschen hüpfen – unbeschreiblich.
Seliger: Ein Highlight war sicher auch, als die Polizei beim Fanmarsch in Dortmund einfach bei unserem „Humba“ mitgemacht hat. Diese positive Stimmung von allen Seiten zeichnet die Heim-EM aus.
DFB-Vorsänger: „Mein Körper ist ein Wrack“
SPORT1: Wie sehr seid ihr geschlaucht, wenn ihr abends nach einem Spieltag ins Bett fallt?
Seliger: Also meine Stimme kannst du dann nicht mehr gebrauchen. Da schmeiße ich mir dann erst mal einige Halstabletten rein, um die Stimmbänder zu ölen.
Kunkel: Mein Körper ist nach jedem Spiel ein Wrack. Es ist ja nicht nur das Spiel. Fanfest, Fanmarsch, Stadion. Um 12.00 Uhr geht‘s los und geht oft bis 3.00 Uhr nachts. Am Ende hat man seit sechs Stunden Kopfschmerzen und die Stimme wollte auch schon seit 15.00 Uhr nicht mehr. Aber für den Traum, 14. Juli in Berlin, müssen wir alle an unsere Grenze gehen. Ich habe seit drei Wochen Gänsehaut. Das ist ein Sommer fürs Leben.