Wenigstens hatte Matej Kovar seinen Mut nicht verloren. Als ihm Verteidiger Jonathan Tah in der 77. Minute des Achtelfinal-Hinspiels der Champions League in München einen Rückpass zuspielte, schlug Leverkusens Torhüter den Ball nicht etwa weg, einfach weit nach vorne über die Mittellinie, also dorthin, wo die Gefahr gebannt gewesen wäre. Nein, er entschied sich für das Dribbling im eigenen Strafraum - gegen keinen Geringeren als Harry Kane. Einen Überzieher nach rechts, einen schnellen Haken zurück nach links und zum Abschluss eine Drehung um den Engländer. Gerade nochmal gut gegangen.
Ist das Experiment gescheitert?
Ob die riskante Aktion seinen Mitspielern und Trainer Xabi Alonso gefallen hat, ist nicht überliefert. Die Tendenz geht aber zu: eher nicht. Jedenfalls befand sich die Werkself zu diesem Zeitpunkt mitten in einer Phase, in der schon alles hätte endgültig vorbei sein können. Offenbar überrascht von der enormen Wucht des Rekordmeisters, leisteten sich die Rheinländer einen individuellen Patzer nach dem anderen, spielten zudem in Unterzahl und lagen 0:3 zurück. Eine Klatsche, wie es sie in den vergangenen anderthalb Jahren nur einmal, im Finale der Europa League, gegeben hatte. Und eine Abreibung, die von Kovar maßgeblich mit verursacht wurde.

Denn als die zweite Halbzeit noch keine zehn Minuten alt war, erlaubte sich Kovar einen Fehlgriff der übelsten Sorte. Von der halblinken Seite segelte eine eigentlich harmlose Hereingabe von Joshua Kimmich an den Fünfmeterraum. Im Normalfall gar keine richtige Übung für den Torhüter, doch diesmal sollte es anders kommen. Der 24-Jährige verschätzte sich komplett, kam einen Schritt zu weit raus und unterlief den Ball maximal unglücklich. Mario Hermoso und Exequiel Palacios, die hinter ihrem Keeper standen, rechneten überhaupt nicht damit und waren völlig orientierungslos, als Jamal Musiala sich artig bedankte und trocken abstaubte.
Kovar nun unter besonderer Beobachtung
Die Folge: Hatte der Double-Gewinner schon vorher kaum Ruhe und Struktur in sein Spiel bekommen, brach Alonsos Mannschaft nach dem schlimmen Aussetzer von Kovar völlig auseinander und wurde von den eigenen Fehlern regelrecht erschüttert. Verteidiger Nordi Mukiele sah nach einem wilden Tritt in total ungefährlicher Position gegen Kingsley Coman Gelb-Rot. Dann rang Edmond Tapsoba Kane derart ungeschickt im Strafraum zu Boden, dass ein Elfmeter folgte, den der Torjäger selbstverständlich versenkte. Schnitzer über Schnitzer, die knallhart bestraft wurden - und vor allem für Kovar persönlich noch besonders bittere Konsequenzen haben könnten.
Weil es dem tschechischen Nationaltorhüter bisher nicht nachhaltig gelungen war, sich zweifelsfrei als künftiger Kronprinz und damit unumstrittener Nachfolger des 35-jährigen Kapitäns Lukas Hradecky zu präsentieren, steht er bis zum Saisonende unter besonderer Beobachtung. Bis dahin muss er seine Qualitäten so weiterentwickeln und den Beweis liefern, dass er einen Platz als echte Nummer eins bei einer der Top-Adressen in Deutschland rechtfertigen kann. Daran gab es nach einigen merkwürdigen Fehlern in der ersten Saisonphase nämlich Zweifel, der Gegenwind nahm durchaus zu.
Doch Kovar steckte nicht auf, kämpfte sich ab November langsam wieder zurück, hielt seinen Kasten plötzlich auffallend oft sauber und wurde von Alonso mit gleich mehreren Highlight-Spielen belohnt: den Pokal-Duellen in München (1:0) und gegen den 1. FC Köln (3:2) sowie den beiden Partien in der Champions League gegen Inter Mailand (1:0) und bei Atletico Madrid (1:2). Nur wurde er bei diesen vier Auftritten in seiner eigentlichen Disziplin kurioserweise kaum gefordert. Wenn mal Bälle auf sein Tor flogen, waren sie meist direkt drin - ohne dass der Keeper wirklich etwas dafür konnte.
Kovar spielt um seine Zukunft
Chancen zu glänzen bekam Kovar selten, dafür fiel er immer wieder durch sein manchmal etwas zu riskantes Spiel mit dem Fuß auf. „Um ganz ehrlich zu sein, die Spiele, die er bekommen hat, waren nicht einfach für ihn”, sagte Alonso nach dem knappen Erfolg gegen Köln. “Ich verstehe nicht alles, was die Position des Torhüters betrifft, aber er hatte nicht so viel zu tun, und dann zwei Tore zu kassieren, ist nicht einfach für die Mannschaft, aber besonders für ihn als Torhüter.“ Natürlich wusste auch Alonso, dass Kovar in Leverkusen um nicht weniger als seine Zukunft spielt.
Der Tscheche hat bei Bayer noch einen Vertrag bis 2027. Um ihn mittelfristig zur neuen Nummer eins aufzubauen, wechselte Alonso bekanntlich schon in der vergangenen Saison munter zwischen den Pfosten. Ein gewagtes Experiment. In der Liga durfte in der Regel Hradecky ran, in den Pokal-Wettbewerben dann Kovar - daran hielt Alonso auch dann noch fest, als sich der jüngere Herausforderer schon auf dem Abzweig in Richtung Fehlkauf befand. Allein die Tatsache, dass Alonso ihn in sportlich so wichtigen Spielen aufbot, zeigte jedoch, dass das Vertrauen in Kovar nicht verloren war. Sein katastrophaler Abend in München könnte nun allerdings vieles ändern.
So einen folgenschweren Bock schoss Kovar bis dato immerhin nie. War die Welt der Werkself selbst bis zur 54. Minute noch halbwegs in Ordnung, krachte sie in dessen Folge vollkommen zusammen. Am Aschermittwoch ist alles vorbei, heißt es im Rheinland. Ganz vorbei ist zwar weder Leverkusens Traum vom Viertelfinale noch der Wunsch des Torhüters, eines Tages die nominelle Nummer eins zu sein. Viel wahrscheinlicher ist beides aber sicher nicht geworden - im Gegenteil. Ist das Projekt Kovar vielleicht schon gescheitert?