Um 20:55 Uhr, also eine gute halbe Stunde nach Schlusspfiff, trat Jan-Christian Dreesen am Samstagabend nach dem 2:1-Sieg des FC Bayern gegen RB Leipzig vor die Presse. Es war kein euphorischer Auftritt, aber man spürte die Erleichterung beim CEO des Rekordmeisters.
Rätsel um Vier-Augen-Gespräch
„Ich bin erstmal sehr froh, dass wir heute eine Reaktion der Mannschaft gesehen haben“, sagte Dreesen zu Beginn seines Gesprächs mit den Journalisten.
Spannendster Punkt: Wie lief das fast schon mythisch aufgeladene Vier-Augen-Gespräch zwischen ihm und Noch-Trainer Thomas Tuchel?
Dreesen betonte gleich mehrmals, dass es sich um eine einvernehmliche Trennung handle.
„Wir sind zusammen gewesen und haben gemeinsam gesprochen und haben miteinander entschieden, dass es für die Mannschaft, den Klub und auch für ihn (Thomas Tuchel, Anm. d. Red.) selber besser ist, wenn wir im Sommer auseinandergehen, dass wir einen Neuanfang machen.“
„Gemeinsam“, „miteinander“ – in jedem Satz machte der Vorstandsboss klar, dass es auch Tuchels Entscheidung ist, im Sommer getrennte Wege zu gehen.
Tuchels Version unterscheidet sich von Dreesens
Was Dreesen nicht wissen konnte: Fast gleichzeitig entspann sich noch auf dem Feld ein Dialog zwischen Tuchel und Sky-Reporter Patrick Wasserziehr, der nahelegt, dass es eben doch nicht so einvernehmlich lief, wie die Bayern-Bosse behaupten.
Auf die Frage, ob er selbst gerne weitergemacht hätte, antwortete Tuchel kurioserweise: „Da bin ich überfragt“. Auf den Hinweis hin, dass sein Vertrag ja noch bis 2025 gelaufen wäre, entgegnete der Coach vielsagend: „Dann haben Sie es ja selbst beantwortet“.
Soll im Klartext wohl heißen: Natürlich hätte Tuchel gerne bis zum eigentlichen Vertragsende weitergemacht. Doch Dreesen ließ ihn nicht.
Noch eindeutiger klangen Tuchels Worte im später folgenden ZDF-Sportstudio, als er betonte, dass er „Arbeitnehmer“ sei: „Und als Arbeitnehmer haben sie nicht immer alle Optionen, haben sie nicht immer alle Trümpfe in der Hand“.
Geht Tuchel doch nicht freiwillig?
Pikant sind diese Aussagen auch deswegen, weil der Bezahlsender auch berichtet hatte, Dreesen hätte Tuchel vor die Wahl gestellt: entweder sofortige Entlassung oder Abschied im Sommer. Tuchel wollte sich dazu nicht äußern und verwies auf die Verschwiegenheit des Vier-Augen-Gesprächs.
Seine Aussagen passen irgendwie in dieses konfuse Bild. Bereits am Freitag, auf der Pressekonferenz vor dem Spiel, hatte Tuchel immer wieder den Eindruck vermittelt, es habe sich doch eher um eine einseitige Entscheidung des Vereins gehandelt. Zumindest wich er von der allgemeinen Sprachregelung aus der Pressemitteilung vom Mittwoch ab.
Während dort die Trennung als „Ergebnis eines einvernehmlichen Gesprächs“ beschrieben wurde, sagte Tuchel am Freitag: „Ich bin mir nicht sicher, ob es die Option gab, dass ich das entscheide.“
Dreesen wischte das jedoch beiseite und pochte in der Mixed Zone auf die Version vom Mittwoch: „Das haben wir gemeinsam gesagt. (…) Wenn er nicht der Meinung gewesen wäre, hätten wir nicht zusammen in einer Pressemitteilung gesagt, dass wir uns einvernehmlich trennen.“
Der wahre Inhalt des Vier-Augen-Gesprächs bleibt also ein Rätsel. Obendrein wirkt die Trennung aus diesem Blickwinkel, in dem Dreesens und Tuchels Versionen abweichen, nicht gerade friedlich.
Wer trägt wieviel Verantwortung?
Erneut geht es um die Deutungshoheit beim FC Bayern. Und der Noch-Trainer will offenkundig nicht hinnehmen, dass der Eindruck entsteht, er habe irgendwie aufgegeben. Er will weiterhin als Kämpfer erscheinen.
Derweil schickt sich Dreesen an, die Verantwortung für die verkorkste Saison doch wieder etwas mehr Richtung Tuchel zu schieben – oder zumindest weg von der Mannschaft und sich selbst.
„Wir haben eine hervorragende Mannschaft. Ich glaube nicht, dass es angemessen ist, jetzt dauernd wieder über die Mannschaft zu reden. Wir haben eine hervorragende Qualität“, sagt Dreesen.
Und weiter über die Führungsriege: „Wir haben einige sehr, sehr gute Transfers gemacht. Ich darf daran erinnern, dass wir nicht nur mit Harry Kane einen Weltklasse-Stürmer geholt haben, sondern mit Minjae Kim einen der besten Innenverteidiger. Insofern kann ich nicht sehen, dass wir im Transfersommer nur Schlechtes gemacht haben. Ganz im Gegenteil.“
Soll heißen: Der Vorstand hat seine Hausaufgaben im Sommer gemacht.
Bliebe da noch die Mannschaft, die in oben genannter Pressemitteilung explizit in die Pflicht genommen wurde und die auch durch Tuchels Aussage, er sei nicht das einzige Problem beim FC Bayern, noch mehr in den Fokus der Kritik gerückt ist.
„Wir stehen immer im Fokus. Es glaubt doch keiner, dass wir zuhause rumliegen und sagen: ‚Ach, jetzt haben wir wieder verloren, wunderbar‘. Das ist alles Käse! Wir wollen doch selbst super sein. Es ist superschön, wenn du gelobt wirst“, sagte Thomas Müller dazu auf SPORT1-Nachfrage.
Es bleibt also weiter die spannendste Frage der Restsaison beim FC Bayern: Trainer, Bosse, Mannschaft – wer trägt den Löwenanteil der Verantwortung für die womöglich erste titellose Saison seit 2012?