Auf der Uhr lief bereits die siebte Minute der Nachspielzeit, als sich bei Gianluigi Donnarumma die ganze Spannung eines Viertelfinal-Krimis entlud.
Ein Torwart-Spiel in neuen Sphären
Der 22 Jahre alte Keeper wandte sich in Richtung der italienischen Fans, ballte die Fäuste und schrie alles heraus, was zuvor in der Münchner Allianz Arena geschehen war – im Wissen, dass es nur noch dieser eine Abstoß wäre, bevor Italien im Halbfinale der EM stünde.
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Wenige Sekunden später pfiff Schiedsrichter Slavko Vincic die Partie dann wirklich ab. Donnarumma hüpfte auf dem grünen Rasen auf und ab, die Arme gen Himmel gereckt - wie ein kleines Kind, das gar nicht glauben konnte, was es bekommen hatte.
Doch es war kein Traum, Italien hatte gewonnen, die Belgier mit 2:1 geschlagen.
Einen riesigen Anteil daran besaß ebenjener Donnarumma, der die belgische Offensive mit seinen Paraden hatte verzweifeln lassen.
Ob Kevin De Bruyne, Romelu Lukaku oder Dries Mertens – sie alle waren an ihm gescheitert, an diesem Tausendsassa mit Längenmaß von 1,96 Meter, dieser Krake mit den hundert Armen, die so lang scheinen, als würden sie jede Ecke des Tors abdecken.
Donnarumma würdiger Nachfolger von Buffon
Donnarumma, dessen Vertrag beim AC Mailand zum 1. Juli ausgelaufen war, ist in Italien schon längst der legitime wie mehr als würdige Nachfolger von Torhüter-Legende Gianluigi Buffon – und das hängt nicht nur mit demselben Vornamen zusammen.
Zarte 17 war Donnarumma, als er für Buffon eingewechselt wurde und somit sein Debüt für die Nationalmannschaft gab. Das war 2016. Inzwischen sind fünf Jahre vergangen, Donnarumma hat Buffon als Nummer eins längst abgelöst und bereits 31 Länderspiele auf dem Buckel.
Die Zahlen, die diese Partien begleiten, sind derweil atemberaubend: So kassierte Donnarumma nur 13 Gegentore, spielte 18-mal komplett zu Null.
Während dieser EM sind es ebenfalls nur zwei Gegentore – eines gegen Österreich im Achtelfinale, das andere gegen Belgien; die gesamte Gruppenphase hatte Donnarumma indes gegentorlos überstanden.
Seine größte Stärke sei die Ruhe, wie er selbst einmal sagte. Wie ein Bär steht er dort hinten und wehrt alles ab, was dem Strafraum zu nah kommt; alles unterliegt seiner Dominanz – Mitspieler können sich blind auf ihn verlassen.
DFB-Akademieleiter: "Einer der komplettesten Torhüter"
Das betrifft besonders Leonardo Bonucci und Giorgio Chiellini. Durch das neue aggressive Spielsystem von Nationalcoach Roberto Mancini, das nicht mehr so viel mit dem einstigen Catenaccio gemein hat, stehen die beiden Innenverteidiger zumeist sehr hoch, bisweilen sogar an der Mittellinie, um direkte Balleroberungen zu erzwingen.
Donnarumma ist dann der Mann, der als Libero die letzte Kette zusammenhält und seinen Vorderleuten das Gefühl gibt, dass sie nicht nach hinten blicken müssen, denn da hinten steht ja der Bär, die Krake mit den hundert Armen. Eine Qualität, die nicht nur Italien den Atem raubt.
"Bei ihm ist die enorme Spielpraxis und Routine der letzten Jahre in fast jeder Aktion zu erkennen", sagte auch Tobias Haupt, Leiter der DFB-Akademie in Frankfurt, beim Sportbuzzer. "Trotz seiner noch jungen Jahre ist er bereits äußerst abgeklärt und sicherlich einer der komplettesten Torhüter des Turniers."
Überhaupt gilt Donnarumma nicht nur als Nachfolger von Buffon, sondern auch von Manuel Neuer, der über Jahre den Weltfußball der Torhüter prägte. Donnarumma ist nun im Begriff, genau diese Rolle einzunehmen, als der neue Weltorhüter – eben desjenigen, an dem niemand vorbeikommt: weder die Presse noch die Fans, geschweige denn der Ball, den er mit seinen dunklen schweren Augen immer im Blick hat.
Ein Torwart, der die Fußball-Welt erstrahlen lässt und mit seinem Spiel womöglich eine neue Ära einleitet.
Zu kämpfen hat Donnarumma indes mit der Publicity um seine Person, zumindest in einigen Kreisen. So nannte man ihn schon "Dollarumma" ob seiner angeblichen Geldgier.
Hintergrund ist das Geschacher, das sein Berater – der berühmt-berüchtigte Mino Raiola – schon seit Jahren um den Marktwert des 22-Jährigen treibt, immer mit der Absicht, Donnarumma an den Meistbietenden zu transferieren beziehungsweise das höchstmögliche Gehalt rauszuschlagen.
Donnarumma auf dem Weg nach Paris
Meistbietend scheint in diesem Sommer Paris Saint-Germain zu sein. Der französische Scheich-Klub muss sich angesichts Donnarummas ausgelaufenen Vertrags nicht mehr mit Ablösesummen rumärgern, ist aber nach übereinstimmenden Medienberichten bereit, zwölf Millionen Euro Jahresgehalt zu zahlen.
Da kann Milan, für das Donnarumma 251-mal spielte und dabei 88-mal gegentorlos blieb, nicht mithalten und so scheint der Weg nach Paris geebnet. Laut italienischer Gazetten war sogar schon der Teamarzt von PSG im italienischen EM-Camp zu Gast, um Donnarumma zu untersuchen; ein Vorgang, der wohl nicht überall gut ankam.
Es ist aber der einzig dunkle Schatten, der auf Donnarumma liegt.
Was der hoch gerühmte Keeper in der französischen Landeshauptstadt zu leisten vermag, wird sich noch erweisen; zunächst steht die EM an, mit der sich Donnarumma einen großen Traum erfüllen will.
"Weltfußballer und Titel mit Italien", sagte er einmal über seine Ziele.
Und so mag es bald wieder sein, dass die Welt Donnarumma beim Jubeln zuschaut, wie er die Fäuste ballt und seine Freude herausschreit; vielleicht schon gegen Spanien, wenn es in Wembley um das "Gran Finale" geht. (EM: Italien - Spanien, Dienstag ab 21.00 Uhr im LIVETICKER)