Den 30. April 1993 wird Monica Seles nie vergessen. Es ist der Tag, der ihr Leben auf den Kopf stellte, ihre Karriere aus der Bahn warf - und den Lauf der Geschichte des Damentennis veränderte.
Messer-Attentat mit bitteren Folgen
Ein Sekundenbruchteil, schrieb Seles Jahre später in ihrer Biographie „Immer wieder aufstehen“, „machte aus mir einen anderen Menschen“. (NEWS: Alle Nachrichten zum Tennis)
In diesem Sekundenbruchteil wurde die damals beste Tennisspielerin der Welt auf dem Center Court am Hamburger Rothenbaum niedergestochen - von einem fanatischen Fan ihrer großen Rivalin Steffi Graf.
1993: Attacke auf Monica Seles bei Seitenwechsel
Der Attentäter, der arbeitslose Dreher Günter Parche, nutzte damals einen Seitenwechsel bei der Partie zwischen Seles und Magdalena Maleeva. Von hinten stach er der auf der Bank sitzenden Weltranglistenersten ein Messer zwischen Wirbelsäule und Schulterblatt.
Zum Glück drang des Messer „nur“ zwei Zentimeter tief in den Rücken ein, Seles hatte sich gerade weit nach vorne gebeugt. Ordner und Zuschauer rangen Parche zu Boden, Seles stieß einen spitzen Schrei aus, stand auf und taumelte zum Netz.
Seles griff sich an den Rücken, sah das Blut an ihrer Hand, realisierte jedoch nicht, was geschehen war.
Im Krankenwagen rasen ihre Gedanken, "und immer wieder kam mir das Wort 'erstochen' in den Sinn", erinnert sich Seles: "Ich hatte dieses Wort noch nie benutzt und nie daran gedacht."
Seles war auf dem Weg zum Rekord-Champion
19 Jahre alt ist Seles (geboren am 2. Dezember 1973 in Novi Sad im heutigen Serbien) am Tag des Attentats - und auf dem Weg, alle bisherigen Rekorde ihrer Sportart zu brechen.
Bei den letzten neun Grand Slams triumphierte sie siebenmal, schlug in den Endspielen die Größen ihrer Zeit: Graf, Martina Navratilova, Arantxa Sánchez Vicario, die tragisch früh verstorbene Jana Novotna, Mary Joe Fernandez.
Seles ist längst die dominierende Spielerin der Tour. Die Serbo-Kroatin mit den ungarischen Wurzeln, aufgewachsen in Nick Bollettieris Akademie, ist schon damals der Prototyp der heutigen Spielerinnengeneration: Druckvoll, aggressiv, offensiv und bis zum 30. April 1993 kaum verwundbar.
Attentäter Günter Parche bleibt in Freiheit
"Ich konnte den Gedanken nicht ertragen, dass irgendjemand Steffi Graf schlagen könnte", sagt Parche bei seiner Vernehmung: "Für mich ist Steffi die Spitzenfrau. Ihre Augen glänzen wie Diamanten. Sie ist eine absolute Traumfrau." Sie sei für ihn "fast wie der Liebe Gott".
Das psychiatrische Gutachten diagnostiziert bei Parche "eine irreale Idealisierung mit wahrscheinlich unbewussten sexuellen Elementen und einem Fanatismus, der bis zur Selbstaufopferung ging."
Parche rechnet fest damit, für seine Tat ins Gefängnis zu wandern. Vorsichtshalber nimmt er deshalb die Graf-Poster von den Wänden des kleinen Zimmers im Haus seiner Tante, damit sie in seiner Abwesenheit nicht beschädigt werden.
Die Justizbehörden in Hamburg verurteilen ihn jedoch nicht wegen versuchten Totschlags, sondern wegen gefährlicher Körperverletzung. Parche bekommt Bewährung, Seles‘ Weltbild bekommt weitere Risse: „Ich kann nicht verstehen, warum dieser Mensch nicht für seine Tat büßen musste.“
Die äußerliche Wunde heilt schnell bei Seles und dennoch dauert es Jahre, ehe die einst zähe Kämpferin mit den beidhändigen Treibschlägen wieder auf den Tennisplatz zurückkehrt. Parche hatte sein Ziel erreicht.
Seles leidet unter Fressattacken
Einen weiteren Grand-Slam-Sieg feiert Seles bei den Australian Open 1996 mit einem Finalerfolg über Anke Huber, doch ihr Leben ist aus den Fugen geraten. Immer wieder flüchtet sie in Fressattacken und nimmt bis zu 30 Kilogramm zu, bis sie 2008 endgültig ihre Laufbahn beendet. Eine Laufbahn, die weit erfolgreicher hätte verlaufen können. Weggefährtin und Rivalin Navratilova glaubt, dass Seles ohne das Attentat zur Grand-Slam-Rekordsiegerin aufgestiegen wäre. (Das wurde aus Anke Huber)
Heute ist Seles zurück im Leben, hat Bücher geschrieben und mit dem Tennis abgeschlossen. Verheiratet ist sie mit dem 32 Jahre älteren amerikanischen Milliardär Tom Golisano, ehemaliger Besitzer des NHL-Klubs Buffalo Sabres. Ihre Essstörungen hat sie überwunden.
Günter Parche lebt nach mehreren Schlaganfällen zurückgezogen und entmündigt in einem Seniorenheim in Thüringen.
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Mit Sportinformationsdienst (SID)