Bei seinem vielleicht letzten Gang vom Centre Court in Wimbledon fuhr sich "Maestro" Roger Federer immer wieder durch die verschwitzten Haare, winkte dem Publikum nochmals mit traurigem Blick zu und schlich mit gesenktem Kopf in die Katakomben. (NEWS: Alles zu Wimbledon)
Bitteres Aus: Das sagt Federer
Fast genau einen Monat vor seinem 40. Geburtstag ist der Traum des Tennis-Superstars vom neunten Wimbledon-Titel jäh geplatzt - der Schweizer ließ im Viertelfinale jegliche Leichtigkeit, die ihn zu immensen Erfolgen geführt hatte, vermissen. Am Ende wurde er vom Polen Hubert Hurkacz beim 3:6, 6:7 (4:7), 0:6 gar deklassiert.
Während Topfavorit Novak Djokovic voll auf Kurs und nur noch zwei Siege vom historischen 20. Grand-Slam-Titel entfernt ist, stellt sich bei Federer unweigerlich die Frage, ob er nochmals in sein "Wohnzimmer" zurückkehren wird.
Für Sky-Experte Michael Stich - den Wimbledon-Sieger von 1991 - ist die Niederlage die logische Folge der vergangenen zwei Jahre. "Es (die Wachablösung der jüngeren Generation, Anm. d. Red.) hat sich ja über zwei Jahre schon angedeutet. Novak Djokovic nehmen wir da mal raus", beschrieb er die jüngere Vergangenheit.
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Daher glaube er nicht, dass Federer die Niederlage an sich ärgere, "sondern die Art und Weise wie er verloren hat, wird ihn sehr wurmen", so der Wimbledon-Sieger von 1992 weiter. Dazu werde es für die Dominatoren der letzten Jahre immer schwerer, da in der neuen Generation ständig neue potenzielle Grand-Slam-Sieger nachkommen. "Die haben auch keine Angst mehr", beschrieb Stich deren Situation.
Federer dankt dem Publikum in Wimbledon
Der Schweizer selbst zeigte sich auf der Pressekonferenz nach der Niederlage niedergeschlagen. "Das war hart. In den letzten paar Spielen, da spürt man, dass man nicht mehr zurückkommen kann. Solche Situationen bin ich nicht so sehr gewöhnt."
Dennoch sei es super gewesen, wie ihn das Publikum unterstützt habe. "Die Ovationen waren fantastisch. Deshalb spiele ich immer noch. Ich bin sehr dankbar für all die Unterstützung, die ich in den Jahren erfahren habe."
Olympia? Wimbledon 2022? Noch keine Entscheidung
Natürlich fragten die Journalisten auch nach seiner Zukunft und ob er sich vorstellen könne, im nächsten Jahr nach Wimbledon zurückzukehren. Auf diese Nachfragen reagierte der Superstar ausweichend. Sein Ziel sei es gewesen, in Wimbledon zu spielen. Das habe er erreicht und darüber sei er sehr glücklich. Nun werde er sich aber erst ein paar Tage Zeit nehmen "und dann schauen wir weiter, was ich tun muss, um wieder besser und wettbewerbsfähig zu werden. Klar würde ich gern wieder hier spielen, aber in meinem Alter ist man nie sicher, was einen so erwartet."
Auch wegen Olympia sei noch keine Entscheidung gefallen. "Wimbledon ist jetzt vorbei für mich, aber ich habe noch keine Entscheidung getroffen. Ich weiß noch nicht, wie es weitergeht."
Allerdings sei das Aus nicht nur ein Rückschlag. Zwar sei er im Moment sehr enttäuscht, "gleichzeitig ist es aber auch ein Gewicht, dass von den Schultern fällt". Daher werde er nun auch nicht in Depressionen verfallen.
Lineker reagiert auf Federer-Aus
Selbst Gary Lineker hatte vor dem Halbfinal-Duell Englands gegen Dänemark noch Zeit, das Aus von FedEx über Twitter zu bedauern. "Selbst die Größten können die Zeit nicht besiegen."
Erst im März hatte der Major-Rekordsieger nach über einjähriger Verletzungspause mit zwei Knieoperationen sein Comeback gegeben und den Rasen-Klassiker in London als großes Ziel ausgegeben. "Er hat hier so besondere Dinge vollbracht", sagte Hurkacz nach dem Sieg über sein Idol: "Für mich wird ein Traum wahr." (NEWS: Alles zum Tennis)
Federer mit holprigem Wimbledon-Start
Nach einem äußerst holprigen Start in Wimbledon war Federer immer besser in Fahrt gekommen und feierte überzeugende Siege. "Es ist schön zu sehen, dass sich die ganze Arbeit auszahlt, die ich reingesteckt habe und dass ich immer noch fähig bin, auf diesem Level Tennis zu spielen", hatte Federer nach dem Einzug in sein 18. Viertelfinale an der Church Road gesagt. Doch von seiner Topform war er am Mittwoch meilenweit entfernt.
Vor 20 Jahren hatte Federer im Wimbledon-Achtelfinale sein großes Idol Pete Sampras bezwungen und erstmals weltweit auf sich aufmerksam gemacht. Diesmal war es Hurkacz, der keinerlei Nervosität gegen seinen Kindheitshelden zeigte.
Während der Pole, der zwischen seinem überraschenden Masters-Titel in Miami Anfang April und Wimbledon nur ein Match gewonnen hatte (sechs Niederlagen), unbekümmert und kreativ aufspielte, fand Federer beim Return kaum Mittel gegen den starken Aufschlag. Souverän oder gar dominant wirkte der langjährige Weltranglistenerste keineswegs - oft traf er Bälle unsauber oder stand schlecht. Symptomatisch war der Tiebreak des zweiten Satzes, in dem Federer viele einfache Punkte durch Unsauberkeiten liegen ließ.
Djokovic hat dritten Wimbledon-Sieg im Visier
Ganz anders sah dies kurz zuvor auf dem Centre Court bei Djokovic aus. Der Weltranglistenerste aus Serbien musste für den Einzug in sein zehntes Halbfinale in London nicht einmal sein bestes Tennis zeigen. Den dritten Wimbledon-Titel in Serie hat er nach seinem 100. Sieg auf Rasen fest im Visier.
"Manchmal sehen die Dinge surreal aus, aber für mich ist nichts selbstverständlich", sagte der Tour-Dominator nach dem 6:3, 6:4, 6:4 gegen den oft zu ängstlichen Ungarn Marton Fucsovics: "Es ist eine riesige Inspiration für mich, Geschichte zu schreiben." In seinem 41. Major-Halbfinale trifft Djokovic, der in diesem Jahr schon in Melbourne und Paris triumphiert hatte, auf Denis Shapovalov (Kanada). (Die ATP-Weltrangliste)
Mit seinem sechsten Wimbledon-Triumph würde Djokovic zudem ein großes Karriereziel erreichen. Es wäre sein 20. Titel bei einem Grand-Slam-Turnier insgesamt, damit würde er mit den gemeinsam führenden Roger Federer (Schweiz) und Rafael Nadal (Spanien) gleichziehen. Auch der Golden Slam - der Gewinn aller vier Major-Turniere in einem Jahr sowie die Goldmedaille im Olympia-Einzel - ist immer noch möglich.
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Mit Sport-Informations-Dienst (SID)