Der schwere Sturz von Fabio Jakobsen hat die Radsportwelt erschüttert.
Voigt fordert drakonische Strafe
Im Finale der ersten Etappe war Jakobsen am Mittwoch bei rund 80 km/h brutal in die Absperrgitter gekracht. Im Sprint um den Sieg hatte der Niederländer Dylan Groenewegen (Jumbo-Visma) seinen Landsmann vom Team Deceuninck-Quick Step kurz vor der Ziellinie bei höchstem Tempo abgedrängt.
Jakobsens Zustand sei "ernst, aber stabil", es herrsche "keine Lebensgefahr" mehr, teilten die Ärzte am Donnerstag mit.
Der ehemalige deutsche Rennfahrer Jens Voigt kennt die Profiszene wie kaum ein anderer. Von 1997 bis 2014 war der heute 48-Jährige als Profi unterwegs. Auch bei der Polen-Rundfahrt, diese gewann er 2008 sogar.
Im SPORT1-Interview schildert der ehemalige "Ausreißer-König" seine Sicht auf den schrecklichen Sturz, klärt über die Eigenheiten eines Sprinters auf und fordert eine harte Strafe für Unfallverursacher Groenewegen.
SPORT1: Wie bewerten Sie den Sturz von Fabio Jakobsen bei der Polen-Rundfahrt?
Voigt: Ich habe ihn nicht live gesehen, sondern später angeguckt. Ich dachte mir: "Der muss ihn doch sehen". Letztendlich ist Groenewegen dann doch rübergezogen. Sprinter sind harte Kerle, die weder Gnade erwarten noch walten lassen. Aber da war offensichtlich zu sehen, dass Groenewegen eine Welle gefahren ist. Für einen Nicht-Sprinter, wie ich es früher war, spielt sich so ein Sprint in Sekundenbruchteilen ab. Da ist man nur froh, wenn man heil durchkommt.
Sprinter sind anders. Die sind eigentlich fast jederzeit im Bild, welcher Fahrer wo fährt und wie schnell er ist. Die haben immer den Überblick. Groenewegen kann nicht sagen, dass er seinen Gegner nicht gesehen hat. Natürlich hat er ihn gesehen. Das war sehr fahrlässig, wie er rübergefahren ist. Sprinter gehen halt oft alles oder nichts. Er wird sich gesagt haben: "Wenn ich gewinnen will, muss ich ihn umfahren". Theoretisch hätte Jakobsen ja auch bremsen können, nach dem Motto: "Ich werde lieber sicherer Zweiter, komme aber hier heil heraus". Das hat er aber auch nicht getan. Aber er hatte das Recht, in diese Lücke zu stoßen. Als er neben Groenewegen gefahren ist, war genug Platz vorhanden. Dann liegt es an Groenewegen allein, seine Linie einzuhalten und die Beine entscheiden zu lassen, wer schneller fährt.
"Hier wurde eine rote Linie überschritten"
SPORT1: Welches Strafmaß halten Sie für Groenewegen für angemessen?
Voigt: In der Szene wurden ja auch einige Fahrer in Mitleidenschaft gezogen, die überhaupt nichts mit der Szene zu tun gehabt haben. Das ist eigentlich das größte Übel. Vielleicht ist die Karriere von Jakobsen durch den Sturz auch schon beendet. Er wird wohl überleben und auch wieder auf eigenen Beinen laufen können. Aber vielleicht kann er nie wieder Fahrradfahren. Da muss es dann schon mehr als 500 Schweizer Franken Strafe geben.
Im Sportrecht gibt es meines Wissens keinerlei Präzedenzfälle und keine richtige Handhabe für so etwas. Ein Anwalt würde entgegnen, dass sich jeder Radsportler freiwillig in so eine Situation begebe. Aber ich denke da schon an drei bis sechs Monate Sperre für Groenewegen. Es müsste etwas sein, was weh tut und auch an alle anderen Profis das Signal sendet: Hier wurde eine rote Linie überschritten, das akzeptieren wir nicht mehr. Du kannst nicht mit dem Leben, der Karriere oder Gesundheit eines Kollegen spielen. Wenn die Linie so offensichtlich verlassen wurde, Leib und Leben willentlich riskiert wurden, muss es eben auch härtere Strafen geben.
"Veranstalter müssen umdenken"
SPORT1: Simon Geschke kritisierte im Anschluss die Streckenführung, die Fahrer sind beim Zieldurchlauf über 80 Km/h schnell. Sie kennen die Polen-Rundfahrt selbst, haben sie 2008 gewonnen. Hat er recht?
Voigt: Ich war drei Jahre lang Fahrersprecher. In der UCI (Internationaler Radsport-Verband, Anm. d. Redaktion) gibt es eine Regel, die besagt: Um unnötiges Risiko im Sprint zu vermeiden, darf es den letzten Kilometer nicht bergab gehen. Es darf lediglich flach oder leicht bergauf gesprintet werden. Der Veranstalter bittet die UCI um Genehmigung und Klassifizierung des Rennens und der Strecke, und die UCI und die technische Kommission überprüft das. Da sie das genehmigt hat, kann sie im Nachhinein ihre Hände nicht in Unschuld waschen und die Schuld auf den Veranstalter schieben.
Natürlich ist es für einen Veranstalter schön, wenn ein Sprint an einer schönen, idyllischen Stelle, wie zum Beispiel vor einem Rathaus stattfindet. Warum lassen sie die Fahrer nicht von der anderen Seite sprinten? Sie könnten das Ziel dort lassen wo es ist, nur statt bergab würden die Sprinter dann bergauf fahren. Ein Sturz mit 50 Km/h ist ein Riesenunterschied zu einem Sturz mit 80 Km/h. Die Tour de France hat auch von den Stürzen der Vergangenheit gelernt und versucht seitdem, die Ankünfte so sauber und sicher wie möglich zu gestalten. Natürlich hat die Tour de France ein ganz anderes Budget, Änderungen an der Straße vornehmen zu können. Das kann sich nicht jeder Veranstalter leisten. Dennoch gibt es Veranstalter, die dahingehend nicht genug mitdenken. Da muss ein Umdenken stattfinden.
SPORT1: 2009 sind sie bei einer Abfahrt der Tour de France mit einer ähnlichen Geschwindigkeit gestürzt. Welche Erinnerungen haben Sie an diesen Sturz?
Mehrere Stunden ohne Erinnerung
Voigt: Glücklicherweise erinnere ich zwei bis drei Stunden rund um den Sturz an so gut wie gar nichts mehr. Ich weiß noch, dass ich bei der Abfahrt in der Spitzengruppe war und mich dann ans Ende der Gruppe habe fallen lassen, um für die Schleck-Brüder und Carlos Sastre beim Begleitfahrzeug neue Trinkflaschen zu holen. Dabei bin ich gestürzt. Als nächstes lag ich auf dem Rücken und guckte an die Decke des Ambulanzfahrzeugs. Diese Erinnerung dauerte fünf Sekunden. Danach fehlt mir wieder eine Stunde, bevor ich mich erinnere, dass ein Helikopter mit mir irgendwo abhob. Nach meinem nächsten Filmriss wachte ich im OP auf, während die Ärzte meine Hände und mein Gesicht nähen. Der Sturz war gegen 16 Uhr, bis abends um 22 Uhr habe ich kaum Erinnerung. Aber die möchte ich auch gar nicht zurückhaben. Als dann die Narkose nachließ, war ich in der Lage, meine Familie anzurufen, um ihr zu sagen, dass ich trotz des Sturzes völlig in Ordnung bin, also keine bleibenden Schäden habe.
SPORT1: Was macht das mit einem Radprofi, wenn er so einen Sturz selbst hat oder aus nächster Nähe miterlebt? Scheut man danach das Risiko?
Voigt: Je älter man wird, umso länger dauert es, bis man das vollständig überwunden hat. Als ich über 30 war, habe ich nach einem Sturz einen Monat gebraucht, um dieselbe Kurve wieder mit vollem Risiko fahren zu können. Man tastet sich langsam heran und erhöht das Risiko. Das ist ein Prozess. Im modernen Radsport gibt es auch Psychologen. Das wurde lange belächelt, Radsport galt früher als Sport für harte Männer. Ich denke, dass das den Jungen heute auch helfen kann, einen Psychologen zu besuchen, der einen lehrt, die Angst zu bewältigen oder zu kontrollieren.
Ich habe immer versucht, Respekt zu haben, diesen aber nicht zu Angst werden zu lassen. Angst lähmt das Bewusstsein. Angst lässt dich verkrampfen und Fehler machen, die zu weiteren Stürzen führen. Aber das muss jeder mit sich selbst ausmachen. Natürlich kommt es nach Stürzen auch vor, dass man denkt: "Muss ich das eigentlich noch haben, oder lasse ich es nicht doch lieber sein?" Ich kenne genug Sportler, die gesagt haben: "Für mich war dieser Sturz ein Zeichen des Schicksals oder von wem auch immer, dass ich aufhören soll." Meiner Meinung hat jeder sein Leben und Glück selbst in der Hand – im Guten wie im Schlechten. Am Ende ist jeder für sich selbst verantwortlich.