Erinnern Sie sich noch an die Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele 2016 in Rio de Janeiro?
Das Olympia-Wunder aus Tonga
An den Taekwondo-Kämpfer aus Tonga, der nur mit einem traditionellen Rock bekleidet und komplett eingeölt ins Stadion einmarschierte?
Sein Name ist Pita Taufatofua, auch bekannt als "Coconut Fighter".
Und falls Sie sich fragen, was der Mann von der Pazifikinsel inzwischen so treibt: Er ist bei Olympia mit dabei. Bei den Winterspielen in Pyeongchang. Im Skilanglauf.
SPORT1 traf Taufatofua im Flugzeug nach Südkorea, wo der 34-Jährige über seinen schier unglaublichen Weg zur Qualifikation für die Winterspiele sprach. (Olympia 2018: Alle Entscheidungen im Liveticker)
Die Nacht von Rio
Für Taufatofua begann alles mit jener Nacht in Rio, als die ganze Welt dank ihm auf den kleinen Pazifikstaat Tonga aufmerksam wurde.
"Es war unmöglich vorherzusehen, was für eine große Sache daraus wurde", sagt er mit zwei Jahren Abstand: "Allein in der ersten Nacht nach der Eröffnungsfeier gab es rund 40 Millionen Suchanfragen nach Tonga." (SERVICE: Der Medaillenspiegel bei Olympia)
Mit seinem außergewöhnlichen Outfit und dem bis ins Letzte austrainierten Körper hatte der Taekwondo-Kämpfer die Blicke auf sich gezogen - und seinem Heimatland einen großen Abend beschert.
Der Traum von Pyeongchang
Nachdem Taufatofua in der ersten Runde des olympischen Taekwondo-Turniers gescheitert war, suchte er nach den Spielen von Rio eine neue Herausforderung - und zwar nicht irgendeine.
"Ich wollte den schwierigsten Sport für mich finden. Etwas, das überhaupt nichts damit zu tun hatte, was ich vorher gemacht hatte", erklärt er SPORT1 seine Herangehensweise.
Da er eigentlich Kraftsportler sei, habe es also ein Ausdauersport sein müssen: Skilanglauf. Erst im Januar 2017 stand Taufatofua zum ersten Mal auf Langlauf-Skiern.
"Genau das war das Ziel: in einem Jahr zu Olympia", sagt er, "und es war wirklich schwierig!"
Deutsche Wegbegleiter
Geschafft hat es der Tongaer auch dank der Hilfe zweier Deutscher: Thomas Jacob ist sein Langlauf-Trainer, Steve Grundmann fungiert als Sportchef des Skiteams Tonga.
Mit verrückten Ideen kennt Grundmann sich aus: 2014 wollte er sich selbst für das afrikanische Land Togo für die Olympischen Spiele in Sotschi qualifizieren. Das blieb ihm zwar verwehrt, dabei war er in Russland als Funktionär aber trotzdem - und knüpfte dort die ersten Kontakte nach Tonga.
"Die beiden Länder kamen bei der Eröffnungsfeier nacheinander - und bei Tonga sah ich auf einmal Willy Bogner", berichtet Grundmann SPORT1. Die beiden Deutschen kamen ins Gespräch - die Geburtsstunde des tongaischen Skiverbandes.
Grundmann war es auch, der Taufatofua und Trainer Jacob zusammenbrachte.
"Er hat mich bei sich wohnen lassen, ich habe sein Essen gegessen - und das alles umsonst", schwärmt Taufatofua von seinem Coach. Dabei habe er ihm schon bei der ersten Begegnung am Stuttgarter Flughafen gesagt, dass er ihm kein Geld zahlen könne.
"Ich habe gesagt: 'Coach, ich habe kein Geld, ich kann dir kein Geld geben. Aber ich verspreche dir: In einem Jahr wirst du bei den Olympischen Spielen ins Stadion einmarschieren.' Er hat mich angeschaut und gesagt: 'Okay.' Das war alles.“
Taufatofua hielt sein Versprechen.
Chaos und Schmerzen
Der Weg dorthin allerdings war steinig - in jeglicher Hinsicht, vor allem finanziell. Eine Crowdfunding-Aktion im Internet spülte zumindest ein bisschen Geld in die Kassen.
Aber auch sportlich war das ganze Projekt ein Abenteuer. In fünf Rennen musste Taufatofua die Qualifikationsnorm schaffen, Anfang Dezember hatte er vier davon in der Tasche. Das Problem: Diese vier Rennen hatten alle in Kolumbien auf Rollerski stattgefunden.
"In diesen Rennen war ich gut, weil ich die meiste Zeit auf Rollerski trainiert habe", erklärt Taufatofua: "In meinem ganzen Leben habe ich nur zehn bis zwölf Wochen im Schnee trainiert."
Die endgültige Qualifikation aber musste der Sunnyboy auf Schnee schaffen.
Ende Dezember und Anfang Januar versuchte sich Taufatofua bei FIS-Rennen in der Türkei.
"Es war grauenhaft. Ich bin dort von der Strecke abgekommen und neben der Loipe war kein Schnee", erinnert er sich: "Ich bin zwei Mal gestürzt und in die Steine am Streckenrand gefallen. Ich hatte überall Schnitte und Schürfwunden."
Mitte Januar hatte er die Wahl, in Armenien oder Kroatien an den Start zu gehen. Er entschied sich für Armenien - ein Fehler. "Wir hatten falsche Informationen über das Streckenprofil bekommen", sagt Taufatofua. Also habe er kurzfristig versucht, doch noch nach Kroatien zu reisen.
Sechs Stunden sei er mit dem Taxi durch Armenien über die georgische Grenze gefahren, um noch einen Flug zu bekommen - vergeblich.
So blieb ihm nur noch eine Chance: am 20. Januar bei einem Rennen in Island. (SERVICE: Der Zeitplan von Olympia)
Letzte Chance in Island
"Wir sind nach Island gekommen und es gab einen Schneesturm. Alle Flüge wurden gestrichen, also beschlossen wir zu fahren", erzählt Taufatofua von den Bedingungen vor Ort.
Gemeinsam mit dem Chilenen Yonathan Jesus Fernandez und dem Mexikaner German Madrazo - beide konnten sich ebenfalls für Olympia qualifizieren - hatten sie es zwei Tage lang versucht, jedoch immer wieder umgedreht. Und dann?
"Am dritten Tag haben wir gesagt: 'Okay, wir haben keine Zeit mehr.' Wir hatten gesehen, dass einige Straßen gesperrt waren, weil es Lawinen gegeben hatte. Es waren rund 20 Kilometer von der ersten Lawine bis zum Austragungsort des Rennens. Also beschlossen wir, dort das Auto stehen zu lassen - auch wenn wir es vielleicht nie wiedersehen würden. Die Versicherung und das alles war uns egal. Wir dachten, dass wir 20 Kilometer durch den Schnee wandern würden, wenn es sein musste."
Es musste nicht sein. Kurz vor ihrer Ankunft am Ort der Lawine war die Straße freigeräumt worden.
Am nächsten Tag beim Rennen waren auch Jacob und Grundmann live vor Ort - und durften sich mit ihrem Schützling über die Olympia-Qualifikation freuen.
"Es war einfach ein Wunder, dass ich mich qualifiziert habe", sagt Taufatofua rückblickend.
Das Ziel für Olympia
Sein einziges Rennen in Pyeongchang findet nun am 16. Februar statt. "Vielleicht auch am 16. und 17.", witzelt Taufatofua, "wenn ich richtig langsam bin".
Die Platzierung ist ihm egal, der Tongaer lebt das olympische Motto "Dabeisein ist alles".
"Wenn ich Letzter werde, es aber schaffe, nicht in die Zuschauer zu rasen und am selben Tag wie die anderen ins Ziel zu kommen, bin ich glücklich", sagt er - und lacht.
Sein Traum ist es, mit seiner Geschichte die Türen für Wintersportler aus dem Pazifikraum zu öffnen. Er und Grundmann wollen Tongas Skiverband etablieren, inzwischen gibt es schon einige hoffnungsvolle Talente mit tongaischen Wurzeln.
"Vielleicht gewinnt in ein paar Jahren ein Kind, das zugeschaut hat, eine Medaille. Vielleicht hat es auch einfach nur eine gute Zeit. Das ist es, was ich erreichen wollte", sagt Taufatofua.
Und was hat er für die Eröffnungsfeier in Pyeongchang geplant? Angeblich nichts Besonderes.
"Es ist zu kalt. Minus 18, minus 20 Grad? Ich spüre schon alles unter 15 Grad plus", sagt er lachend und meint: "Unser Ziel ist es, dass ich bis zu meinem Rennen noch am Leben bin."