Der Imperator hat abgedankt - und hinterlässt ein Imperium, das vor vielen spannenden Fragen steht.
WWE-Erdrutsch mit massiven Folgen
Vince McMahon ist am Freitag nach 39 Jahren als Boss über einen Sex- und Schweigegeld-Skandal gestolpert, der nach neuesten, von WWE selbst preisgegebenen Informationen noch gewaltiger ist, als bisher angenommen. (NEWS: Alle Neuigkeiten zu WWE)
Parallel dazu hat das Milliarden-Unternehmen aber auch weitere Informationen zur neuen Führungshierarchie mit der Doppelspitze Stephanie McMahon und Nick Khan sowie „Triple H“ Paul Levesque als neuem starken Mann im Kreativbereich bekanntgegeben und damit viel Fan-Euphorie ausgelöst.
Was wird sich in der neuen WWE kurz- und langfristig ändern? Welche Folgen hat das McMahon-Beben für die TV-Shows RAW und SmackDown, für die heißen und ungeklärten Personalfragen und für Konkurrent AEW? SPORT1 beantwortet alle wichtigen Fragen.
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Wer sind die Nachfolger von Vince McMahon bei WWE?
Als Firmenlenker: Vinces Tochter Stephanie McMahon als CEO (Chief Executive Officer) und neue Chefin (Chairwoman) des Board of Directors und der bisherige Ligapräsident und Finanzchef Nick Khan, der in einer Doppelspitze ebenfalls als CEO agieren wird. McMahons Macht als Mann des letzten Wortes über alle TV-Shows, Matches, Fehden, Titelregentschaften und vor allem auch die Kaderzusammenstellung erbt Stephanies Ehemann „Triple H“ Paul Levesque. Levesque bekommt nicht nur seinen alten Job als EVP (Executive Vice President) of Talent Relations zurück, sondern bekommt laut offizieller WWE-Mitteilung nun auch „alle Verantwortlichkeiten in Bezug auf den Kreativbereich“.‘
Wie viel Führungserfahrung hat Stephanie McMahon?
Die 45-Jährige ist Fans vor allem für ihre jahrelange Rolle vor der Kamera bekannt, aber auch hinter den Kulissen trägt sie seit langem wesentliche Verantwortung, schon seit der legendären „Attitude Era“ um die Jahrtausendwende. Stephanie war ab Ende 2000 Chefautorin bei WWE und prägte danach auch in diversen weiteren Rollen die kreative Philosophie und Prozesse, die bis heute angewandt werden. Ab 2013 orientierte sie sich neu und übernahm die eher repräsentative Rolle als Chief Brand Officer, bei der es mehr darum ging, die Marke WWE in der Öffentlichkeit und Geschäftswelt ins rechte Licht zu rücken.
Wer ist Nick Khan, der zweite CEO?
Der 2020 als Präsident und „Chief Revenue Officer“ installierte Khan - nicht verwandt oder verschwägert mit AEW-Boss Tony Khan - hat bei WWE innerhalb kurzer Zeit großen Einfluss gewonnen. Khan war vor seiner WWE-Zeit hochrangiger Mitarbeiter der auch in Hollywood einflussreichen Künstleragentur CAA und mächtiger Agent für diverse Sport-TV-Persönlichkeiten (Ariel Helwani, Stephen A. Smith).
Mit WWE fand der gut vernetzte Strippenzieher zusammen, als er die Liga 2019 in den Verhandlungen um die milliardenschweren TV-Verträge für RAW und SmackDown vertrat. Bei WWE fädelte er mit dem Verkauf des Streaming-Portals WWE Network an die NBC-Gruppe und deren Anbieter Peacock einen weiteren Milliarden-Deal ein. Khan ist nicht im Wrestling verwurzelt wie die McMahon-Familie, ist laut Brancheninsider Dave Meltzer (Wrestling Observer) aber auch Fan und bringt durchaus auch eigene Vorstellungen ein, was Ausrichtung und Personal-Philosophie angeht. Eine Verbindung zum Wrestling ist auch sein persönliches Verhältnis zu Ikone und Superstar Dwayne „The Rock“ Johnson. Die beiden sollen sich schon als Kinder auf Hawaii begegnet sein, Nicks Schwester Nahnatchka Khan ist Produzentin von Johnsons TV-Serie Young Rock.
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Wird das neue Führungstrio reibungslos zusammenarbeiten?
Das Ehepaar McMahon-Levesque sicher, mit Khan muss es sich zeigen. Die Doppelspitze an sich ist üblicherweise ein Zeichen, dass es in einem Unternehmen ungeklärte Machtfragen gibt. Und in den letzten Jahren McMahons gab es in der Chefetage einige spektakuläre Verwerfungen - etwa die zwischenzeitliche Teil-Entmachtung Levesques durch Vince und die jüngsten Irritationen um Stephanie, die im Frühjahr eine familiäre Auszeit verkündete und danach in einem Aufsehen erregenden Artikel des Business Insider aus anonymen WWE-Führungskreisen angezählt wurde, sie hätte ihren Job nicht gut genug gemacht und sei von Vince de facto abserviert worden. Welche Rolle Khan in dieser Sache gespielt haben könnte, ist Gegenstand von viel Getuschel. Zu erwähnen ist aber auch: Seit ihrer unvermuteten Rückkehr ist Stephanie professionell mit der Vorgeschichte umgegangen, hat öffentlich kein Wort darüber verloren und sich voll in den Dienst der Sache gestellt.
Warum ruhen so große Erwartungen auf Triple H?
Der 52 Jahre alte Levesque - zu aktiven Zeiten 14-maliger WWE und World Champion, Rock-Rivale und wegen seiner Backstage-Macht durchaus auch Reizfigur - hat sich hinter den Kulissen zu einem populären Hoffnungsträger entwickelt. Als Chef des Aufbaukaders NXT schuf er eine erfolgreiche Eigenmarke und setzte dort andere Schwerpunkte als Vince bei RAW und SmackDown: mehr Fokus auf Ringaction, stringenteres Storytelling, mehr Offenheit für moderne Independent-Talente, die nicht zwingend Vinces Idealbild groß und muskulös entsprachen (die McMahon zuletzt wieder zurückgedreht hatte). Auch die „Women‘s Revolution“, die überfällige Gleichstellung weiblicher Stars, trieb er von NXT aus entscheidend an.
Was wird Triple H anders machen als Vince McMahon?
Wird Triple H RAW und SmackDown nun so aufziehen wie das alte NXT, das Vince zuletzt umgeworfen hatte? Ganz genau so sollte man das nicht erwarten, im Mainstream-Umfeld unterliegt Levesque anderen Zwängen und wird keine dort erfolgreichen Stars wegjagen oder Rezepte umwerfen. Es gibt jedoch keinen Grund anzunehmen, dass er nicht offener als Vince ist, alte Gewissheiten infrage zu stellen. Das dürfte sich bei Personalauswahl und Produktgestaltung widerspiegeln. In der alten WWE musste letztlich jeder kreative Vorschlag, den irgendwer gemacht hat, das Endziel haben, Vince McMahons Vorstellungen zu entsprechen. Auch brachte Levesques NXT oft Talente hervor, mit denen McMahon im Hauptkader dann nichts anzufangen wusste. Das ist nun anders. Ob Levesque noch denselben Wert auf spürbar typische Vince-Segmente wie die Inszenierung einer Kotz-Attacke des Schwergewichts Otis jüngst bei RAW legt: auch eher zweifelhaft.
Vor der aktuellen Ausgabe von RAW hat sich Levesque bereits in einem Meeting an die Stars gewandt. Laut Fightful versprach er ihnen offenere Kommunikation und dass die Arbeit unter ihm „Spaß“ machen solle, was die Aufbruchstimmung weiter genährt haben soll. Die einzige Sorge, die Fans in Bezug auf Levesque haben, ist seine Gesundheit nach dem lebensgefährlichen Herz-Drama im vergangenen Jahr.
Nimmt Triple H personelle Änderungen im Hintergrund vor?
Kurzfristig: wohl nicht. Der Observer berichtet, dass die interne Beschlusslage der WWE-Führung lautet, vorerst nicht mit großen Personalbeben für Verunsicherung zu sorgen. Mittelfristig wird erwartet, dass Levesque alte Weggefährten McMahons wie Kreativdirektor Bruce Prichard oder Produktionschef Kevin Dunn mit eigenen Vertrauten ersetzt - der mit McMahon über den Schweigegeld-Skandal gestolperte Nikki-Bella-Stiefvater John Laurinaitis ist schon weg. Gut möglich, dass Levesques alte NXT-Zuarbeiter wie Gabe Sapolsky und Ryan Katz, die McMahon zu Beginn des Jahres entlassen hatte, bald wieder zurückkehren werden. Auch der interne Einfluss von Roman-Reigns-Manager und Backstage-Mastermind Paul Heyman, zu dem McMahon ein gespaltenes Verhältnis hatte, könnte wieder wachsen.
Welche Folgen hat das WWE-Beben für Konkurrent AEW?
Große. Das Ende von Vince McMahon verändert die Statik der Wrestling-Landschaft nachhaltig, nicht unbedingt zu Gunsten von AEW. Die teils altmodischen und oft starren Vorstellungen McMahons machten es der Promotion des jungen Tony Khan leicht, sich als moderne und frische Alternative zu präsentieren - was schwerer wird, wenn WWE es schafft, sich selbst mehr zu modernisieren.
Zuletzt trieb WWE der Liga auch einige vielversprechende jüngere Stars in die Arme, die dort bessere Perspektiven für sich sahen, zum Beispiel den von Levesque hoch geschätzten, vom Vince-Lager angeblich aber als zu schmächtig für eine Topstar-Rolle abqualifizierten Adam Cole. Mit Triple H am Ruder ändert sich die Dynamik bei kommenden und aktuellen Free-Agent-Fragen. Ein Beispiel: Johnny Gargano, der seinen WWE-Vertrag Ende 2021 auslaufen ließ und nach einer Babypause zu AEW zu neigen schien. Mit Levesque, unter dem er bei NXT eine Hauptrolle spielte, sind die Karten neu gemischt. Dasselbe gilt für den Fall der von McMahon suspendierten Sasha Banks und Naomi. Auch das Ringen um den bald frei werdenden AEW-Jungstar MJF wird nochmal ein Stück spannender.
Wird Vince McMahon im Hintergrund weiter mitmischen?
Als Ratgeber im Hintergrund: mit Sicherheit. Doch den Einfluss, den er von dort aus noch nehmen kann, sollte man auch nicht überschätzen. Es kann nicht mehr dieselbe Intensität wie vorher haben, wenn er nicht mehr fast jede Show persönlich von der „Gorilla Position“ aus lenkt und vorab jedes Skript durch seine Hände geht - McMahons Detailversessenheit, sein Faible für strenge Sprachregelungen und die Häufigkeit, mit der er fertige Drehbücher am Tag der Show verwarf und völlig umschreiben ließ, ist Legende. Und jetzt definitiv eine Legende der Vergangenheit.
Macht Vinces Rücktritt einen Verkauf von WWE wahrscheinlicher?
Ja, aus zwei Gründen: Zum einen wird die Marke WWE als Investition für potenzielle Käufer nochmal attraktiver, wenn es die letzte Unsicherheit beseitigt, ob sie auch ohne den ewigen Vince erfolgreich sein wird. Zum anderen bekommt Mehrheitseigner Vince durch die peinlichen Umstände seines Abgangs einen zusätzlichen Anreiz, ein großes Geschäft abzuschließen, das sein Wirken bei WWE mit einer harmonischeren Note beenden würde. Der überraschende Anstieg der WWE-Aktie nach McMahons Aus ist in jedem Fall ein Signal, dass Anleger mit einem Verkauf rechnen. Als potenzielle Abnehmer oft genannt werden die TV-Partner NBC Universal (der Network-Deal war womöglich ein Vorbote) und die Fox Corporation von Rupert Murdoch, auch andere Medien-, Unterhaltungs- und Finanzriesen wie Disney sind denkbar.