Was will jemand geboten bekommen, der seinen Fernseher einschaltet, um Wrestling zu sehen?
Der radikale Masterplan von WWE
Wie unterscheidlich die beiden großen US-Ligen der Gegenwart diese Frage beantworten: Es war in dieser Woche exemplarisch zu besichtigen.
Bei Monday Night RAW, der langjährigen Flaggschiff-Show von WWE, war alles zugeschnitten auf Bobby Lashley: Ein 124 Kilo schweres Muskelpaket, das an einem Abend drei Gegner dominierte und auf dem Weg zu seiner nächsten Regentschaft als WWE-Champion zu sein scheint.
Bei „Winter is coming“, einer Spezialepisode von AEW Dynamite, setzte der Konkurrent derweil auf einen Showdown zwischen ihrem Champion Hangman Page und Bryan Danielson. Keiner der beiden ein Superschwergewicht wie Lashley oder die bei WWE SmackDown im Mittelpunkt stehenden Roman Reigns und Brock Lesnar. Beide allerdings exzellente Ringhandwerker - die von AEW ganze 60 Minuten Zeit bekamen, ihre Kunst zu entfalten.
Welche Art von Wrestling ist die bessere? Es gibt darauf keine Antwort, die „richtig“ ist. Aber klar ist: Der langjährige Marktführer WWE wird von einer Liga herausgefordert, die eine völlig andere Antwort gibt als er. Und reagiert darauf zunehmend mit einer Radikalisierung seiner eigenen Philosophie.
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WWE: Mehr Fokus denn je auf Superschwergewichte
Nicht nur die Art und Weise, wie Lashley am Montag eingesetzt wurde, war sinnbildlich für die „Bigger-is-better“-Mentalität, die WWE-Boss Vince McMahon seiner Promotion mehr denn je verordnet zu haben scheint. (WWE-Boss Vince McMahon: Sein eiskalter Aufstieg, sein Vermögen, seine Skandale)
Der große Umbau des Aufbaukaders NXT in diese Richtung hat in den vergangenen Monaten viel Staub aufgewirbelt, einen weiteren Fingerzeig lieferte kürzlich auch die erste Verpflichtungswelle von College-Athleten im Zuge des neu aufgelegten NIL-Programms, mit dem WWE seit kurzem vielversprechende Uni-Sportlerinnen und -Sportler an sich binden kann.
Zu der von WWE vorgestellten Anfängerklasse gehörten neun männliche Athleten, die noch als Footballer, Ringer oder Leichtathleten aktiv sind. Die auffällige Konstante: Nur einer von ihnen wiegt unter 125 Kilo, die meisten deutlich mehr.
Hulk Hogan bis heute das Leitbild
Ein richtiger Wrestling-Star muss ein muskulöses Schwergewicht sein, das dem Zuschauer auf den ersten Blick ins Auge springt: Das ist McMahons Grundüberzeugung, seit er in den Achtzigern Hulk Hogan mit seinen „24 inch pythons“ zum Weltstar und seine Promotion zum globalen Phänomen formte.
Abgewichen ist er davon nie, obwohl es auch in der eigenen Liga Erfolgsgeschichten von Stars gab, die nicht in dieses Raster passten: Bret Hart, Shawn Michaels, „Mankind“ Mick Foley, Jeff Hardy und vor allem auch die nun bei AEW wirkenden CM Punk und Danielson alias Daniel Bryan.
Für McMahon gab jedoch immer den Ausschlag: Hogan, der Undertaker, Stone Cold Steve Austin, The Rock, John Cena waren noch erfolgreicher - und haben auch mehr in die Mainstream-Öffentlichkeit hineingewirkt und das Bild geformt, das die breite Masse vom Wrestling hat. Aktuell sind Reigns - der wie Rock und Cena auch schon Richtung Hollywood schielt - und Lesnar an der Spitze der Nahrungs- und Wertschöpfungskette. Mit jeweils über 5 Millionen Dollar Jahresgehalt sind sie auch die Top-Verdiener.
AEW mit mehr eigener Handschrift als frühere Rivalen
Es ist nicht neu, dass McMahon „schwere Jungs“ bevorzugt und den Fokus, den andere auf die „Workrate“, auf die Qualität des Ringprodukts legen, als Liebhaberei sieht, die vom geschäftlich Wesentlichen ablenkt.
Das Neue und Spannende ist, mit welchen Mitteln und mit welchem Erfolg ein Konkurrenzprodukt dieses Credo in Frage stellt - und wie WWE damit umgeht.
WCW, der große WWE-Rivale der Neunziger, hatte zwar einige revolutionäre Ideen, aber auch selbst das programmatische Firmenmotto „Where the big boys play“. Dem späteren, weniger erfolgreichen Mitbewerber TNA (heute: Impact), wurde auch oft vorgeworfen, eigene Akzente wie die auf Spektakel-Wrestling angelegte „X-Division“ nicht genug zu betont und im Zweifel ebenfalls die von WWE vorgegebenen Muster kopiert zu haben.
AEW-Boss Tony Khan, erst 39 Jahre alt, aber erklärter Wrestling-Nostalgiker, setzt deutlich konsequenter auf eine eigene Handschrift - in einem Maße, wie es lange kein WWE-Herausforderer mehr gewagt hat.
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AEW Dynamite mit mehr zahlenden Fans als WWE RAW
Ein 60-Minuten-Einzelmatch wie das zwischen Page und Danielson hat es im WWE-TV mit einer Ausnahme - das Iron Man Match zwischen Kurt Angle und dem jungen Brock Lesnar bei SmackDown 2003 - nie gegeben. Es ist ein Stilmittel, das eher von puristischeren Japan-Ligen wie NJPW bekannt ist, oder von Old-School-Federations wie WCW-Vorläufer Jim Crockett Promotions.
Nicht zufällig erinnert AEW in diesen Tagen oft an den 45-Minuten-Klassiker zwischen Ric Flair und Sting 1988 in Greensboro (wo Dynamite kommende Woche gastiert, mit dem noch immer aktiven Stinger).
AEW mixt diese klassischen Elemente mit modernen, von WWE teils ebenfalls als nicht mainstream-tauglich verworfenen Einflüssen: Auffällig ist vor allem auch, dass Khan auf eine Typen-Vielfalt setzt, in der Schwergewichte keine herausgehobene Rolle spielen. Auch sehr schmächtige Wrestler wie Darby Allin oder Jungle Boy machen bei ihm Karrieren, die bei WWE aktuell undenkbar scheinen.
Den Beweis, dass man mit anderen Mitteln als WWE mehr als nur Nischenerfolg haben kann, hat AEW mittlerweile recht eindrucksvoll erbracht: Das Fachmedium Wrestling Observer hat soben errechnet, dass die TV-Shows von AEW seit den Corona-Lockerungen im Sommer im Schnitt mehr zahlende Fans in die Hallen gelockt haben als WWE RAW, gegen das es im Herbst auch bei den TV-Ratings zwei erste größere Siege gab. Selbst gegen das von WWE inzwischen wichtiger genommene SmackDown gab es einen vielbeachteten Teil-Triumph.
Vielversprechende Leichtgewichte wenden sich von WWE ab
Die Reaktion von WWE? Keinesfalls eine Öffnung für das, was AEW vormacht. Im Gegenteil.
McMahon fokussierte das Talentkonzept von WWE in den vergangenen Monaten radikaler denn je auf seine Vorstellungen: Der als Reformer geltende McMahon-Schwiegersohn Paul „Triple H“ verlor an Einfluss, zu Gunsten von langjährigen McMahon-Vertrauten wie Kreativdirektor Bruce Prichard und dem in die frühere Rolle als Talentchef zurückgekehrten John Laurinaitis.
Dessen mit McMahon abgestimmtes Leitmotiv: Mehr Schwergewichte, mehr junge Quereinsteiger aus anderen Sportarten, die den WWE-Stil von der Pike auf beigebracht bekommen - weniger Independent-Phänomene, „keine Zwerge mehr“ (ein vom Observer kolportierter O-Ton aus dem McMahon-Zirkel).
Hätte WWE dieses Konzept in den vergangenen Jahrzehnten konsequent angewandt, wären Danielson und Punk dort nie gelandet, auch andere, heute prägende Figuren wie Seth Rollins, Sami Zayn und Kevin Owens - soeben mit einem Multi-Millionen-Deal zum Bleiben bewegt - hätten es schwer gehabt.
Auch heute bleibt die personelle Umorientierung nicht folgenlos: Im Sommer ließ das oft mit seinem WWE-Mentor Shawn Michaels verglichene Leichtgewicht Adam Cole seinen WWE-Vertrag auslaufen und wechselte zu AEW, wie zuvor auch schon die früheren NXT-Champions Malakai Black (Opfer einer der zahlreichen Entlassungswellen in diesem Jahr) und Andrade El Idolo (auf eigenen Wunsch gekündigt). Johnny Gargano und Kyle O‘Reilly, weitere langjährige NXT-Leistungsträger, scheinen denselben Schritt zu gehen.
Obwohl WWE sie trotz allem ebenso halten will wie sie Cole hatten halten wollen: Gargano und O‘Reilly haben schlicht allen Grund anzunehmen, mit dem „Playbook“ von AEW bessere Karriere-Chancen zu haben als mit dem von WWE.
WWE scheffelt weiter im Milliarden-Bereich
Eine Lagerbildung zwischen WWE- und AEW-Stil ist zu besichtigen, auch bei den Fans: Quotenmessungen bei den beiden Ligen ergeben deutlich weniger Überschneidungen als zu Zeiten des „Monday Night War“ in den Neunzigern, als viele Fans zwischen RAW und der WCW-Show Monday Nitro hin- und herzappten.
Ein weiterer Unterschied zu damals: Vor dem Boom der späten Neunziger stand WWE im Konkurrenzkampf mit WCW unter einem anderen Leidensdruck, musste nach mehreren Krisenjahren zeitweise um die geschäftliche Existenz bangen.
Heute agiert WWE auf sicherer Basis, milliardenschwere TV- und Streaming-Verträge und weltweiter Erfolg lindern den Schmerz, den Alleinvertretungsanspruch im Mainstream-Wrestling verloren zu haben - und wohl auch das Gefühl der Not, deswegen eigene Überzeugungen in Frage stellen zu müssen.
Liegt Vince McMahon wieder richtig
Ironie der Geschichte: Vor knapp 40 Jahren war es McMahon selbst, der mit seinen Ideen der Revolutionär war, der Jahrzehnte alte Überzeugungen über den Haufen warf.
Als McMahon seinerzeit Hogan zu seinem Star auserkor, war die Haltung vieler alteingesessener Promoter: Völliger Unfug, niemals würde das Publikum ein Aushängeschild akzeptieren, dessen Ringhandwerk bei allem Charisma schlechter ist als das vieler Zeitgenossen.
McMahon behielt Recht. Tut er es auch diesmal? Oder ist der 76-Jährige diesmal selbst derjenige, der vom Wandel der Zeit überholt wird?
Die Wrestling-Welt steht vor spannenden Zeiten.