Die Wrestling-Landschaft in den USA steht vor der nächsten umfassenden Neuordnung - die sich auch bei WWE und noch mehr bei AEW bemerkbar machen dürfte.
Massenentlassung flutet Markt für WWE und AEW
Ring of Honor (ROH), in den Jahren nach der Jahrtausendwende stilbildende dritte Kraft hinter WWE und dem früheren Hauptrivalen TNA (heute: Impact) hat im Zuge einer strategischen Neuausrichtung sämtliche Performerinnen und Performer entlassen.
Laut übereinstimmenden Medienberichten, die sich auch durch die Online-Reaktionen diverser Betroffener bestätigten, beendet ROH zum neuen Jahr sämtliche bestehenden Vertragsverhältnisse, die nicht ohnehin ausgelaufen wären. In einer rund viermonatigen Veranstaltungspause will ROH laut offizieller Mitteilung das Produkt „neu denken“ und „neu konzipieren“ - und dann anscheinend ohne feste Verträge weiter operieren.
Die Konsequenz ist, dass Dutzende, in der Szene teils namhafte Gesichter auf den Free-Agent-Markt gespült werden. Und schon jetzt wird bei Fans heiß diskutiert, wer WWE oder AEW verstärken könnte.
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ROH war Sprungbrett für CM Punk und viele andere
Das 2002, im Jahr nach dem Untergang der früheren WWE-Mitbewerber WCW und ECW, gegründete Projekt ROH hatte vor allem in den Nuller-Jahren tiefe Spuren in der Wrestling-Welt hinterlassen.
Für zahlreiche spätere WWE- und AEW-Stars wie CM Punk, Bryan Danielson (Daniel Bryan), Samoa Joe, Seth Rollins (Tyler Black) und Kevin Owens war ROH ein Sprungbrett. Die Liga war zudem ein wesentlicher Trendsetter beim Wandel des US-Wrestlings hin zu mehr Fokus auf das In-Ring-Produkt (Wie CM Punk bei ROH ein WWE-Beben vorwegnahm).
In den vergangenen Jahren wurde ROH zunehmend zum Opfer des eigenen Erfolgs, der auch in andere Ligen hineinwirkte: Noch mehr als der erwartbare Verlust vieler Talente an WWE schmerzte zuletzt, dass der Marktführer mit dem Konzept des Drittkaders NXT (vor dessen Richtungswechsel in diesem Herbst) massiv in die von ROH besetzte Nische drang.
Die Gründung des von ähnlichen Einflussen geprägten Rivalen AEW 2019 setzte ROH - wo diverse Mitglieder der AEW-Gründungscrew vorher aktiv waren - zusätzlich unter Druck. Die grundlegende Frage, welchen Platz ROH auf dem nationalen Markt überhaupt noch einnehmen kann, stellte sich immer lauter.
Zerrieben zwischen WWE und AEW
In der ersten Phase des neuen WWE-AEW-Duopols hatte ROH noch auf eine Weise um sein Revier gekämpft, die viele Beobachter überraschte: Die Liga mischte im Wettbieten um ungebundene Talente offensiv mit und verpflichtete einige Szenegrößen wie das mexikanische Trio Bandido, Dragon Lee und Rush - oder auch den von vielen bei AEW erwarteten Top-Performer Marty Scurll (der wegen eines Sex-Skandals schon länger wieder ausgebootet worden ist).
Ein großer Coup für ROH war auch die 2019 zusammen mit der Japan-Liga NJPW veranstaltete Megashow im New Yorker Madison Square Garden. Auch NJPW - deren Star-Importe der zentrale Faktor dabei waren - hat sich jedoch inzwischen umorientiert und kooperiert jetzt unter anderem mit AEW.
Auch die Corona-Pandemie und ihre Folge erschwerten ROH, seit 2011 in den Händen des milliardenschweren Medienunternehmens Sinclair Broadcasting, das Geschäft. Wobei sich ROH in dieser Zeit viel Respekt erwarb durch seine ungewöhnlich konsequenten Corona-Maßnahmen - und vor allem auch dadurch, dass man anders als WWE in dieser Zeit keine Entlassungen vornahm.
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Nun scheinen sie bei Sinclair jedoch zum Schluss gekommen zu sein, dass das Geschäftsmodell von ROH in der jetzigen Form nicht mehr tragfähig ist.
Free Agents eher für AEW interessant
Der nun vollzogene Schritt stellt viele der bisherigen Kadermitglieder vor eine ungewisse Zukunft: Die Independent-Szene hat zwar den Betrieb wieder aufgenommen und ermöglicht es, auch außerhalb fester Ligastrukturen wieder Geld zu verdienen.
Wie viele der Entlassungsopfer aber wirklich bei WWE oder AEW unterkommen können, ist höchst ungewiss: Bei WWE passt der Großteil der ROH-Alumni (unter ihnen auch die WWE-Entlassungsopfer EC3 und Mike und Maria Kanellis) nicht mehr in das jüngst auf links gedrehte Talentkonzept, bei AEW sind inzwischen so viele Stars und Talente, dass fraglich ist, wie viel Platz dort noch im Kader ist.
Dass zumindest AEW sich nun einige Filetstücke schnappen wird, wird jedoch allgemein erwartet und deutet sich etwa auch in einer vielsagenden Twitter-Reaktion von Co-Geschäftsführer Cody Rhodes an (ebenfalls früher bei ROH).
Die spannende Frage ist dennoch: Welche?
Was wird aus Bandido, Dragon Lee, Kultstar Danhausen?
Zum bisherigen Kader von ROH gehören neben langjährigen Indy-Größen (Jay Lethal, Jonathan Gresham, Silas Young, Jay & Mark Briscoe) auch einige internationale Ausnahme-Performer, speziell Bandido und Dragon Lee sind Weltklasse-Wrestler, die mit ihrem Spektakel-Stil auch die AEW-Fanbase begeistern würden.
Dragon Lee und auch der bodenständigere, aktuell verletzte Ex-Champion Rush - der ROH ohnehin verlassen hätte - drängen sich auch durch ihre persönliche Bande auf: Sie sind Weggefährten und gute Freunde von AEW-Star Andrade El Idolo.
Nicht völlig zu vergessen sind dabei auch manche Talente, die als Wrestler weniger profiliert sind, dafür aber als einprägsame Charaktere, die man sich auch in der AEW-Welt gut vorstellen könnte: Unter ROH-Vertrag stand etwa auch der Comedy-Kultwrestler Danhausen, der in den vergangenen Jahren gerade auch über Social Media viele Fans auf sich aufmerksam gemacht hat - und ebenfalls mit diversen AEW-Stars vernetzt ist.