Die große Revolution im Skispringen kam nur durch einen Zufall zustande - und ihr Initiator musste sich auch noch Spott anhören.
Der verspottete Revolutionär
Alles begann mit Jan Boklöv, der alleine oben auf dem Holzbalken saß. Der Skispringer aus Schweden bereitete sich auf einen Trainingssprung vor – ohne Hoffnung auf ein Top-Ergebnis. Denn ein Mann für die großen Weiten war der damals 19-Jährige nicht.
Skispringen: Wie durch Zufall der V-Stil entstand
Boklöv stand für Mittelmaß. Weltcup-Siege schienen für ihn unerreichbar. Doch dieser eine Trainingstag Mitte der 1980er-Jahre in Falun sollte sein Leben verändern - und Jahre später auch das Skispringen für immer.
Boklöv verpatzte den Absprung vom Schanzentisch. Dann kam er ins Trudeln, sein Körper verformte sich zu einer Banane. Boklövs Skier begannen zu flattern und wurden weit auseinandergerissen - in eine V-Stellung. „Plötzlich flog ich zwanzig Meter weiter als sonst“, erzählte der Schwede Jahre später in einer Dokumentation des Westdeutschen Rundfunks (WDR). Er hatte durch Zufall den V-Stil kreiert.
Boklöv verfeinerte fortan die Technik. Dass ihn die Norweger als „Krähenhüpfer“ verspotteten, störte den Schweden nicht. Der Erfolg gab Boklöv nun mal recht: Er steigerte seine Weiten.
Erster Sieg im V-Stil in Lake Placid
Schließlich kam der 10. Dezember 1988: Boklöv gewann den Weltcup im US-amerikanischen Lake Placid. Es war eine Revolution im Skispringen. Erstmals stand ein Athlet oben auf dem Podest, der den V-Stil einsetzte. Boklöv gewann in der Saison 1988/89 noch vier weitere Springen – und am Ende den Gesamtweltcup.
Für Jens Weißflog blieb in der Endabrechnung nur Platz zwei. Der dreimalige Olympiasieger erinnerte sich im Gespräch mit SPORT1 daran, wie der schwedische Nobody die Skisprung-Szene aufmischte. „Wir haben uns alle gefragt, wie einer, der so eine schlechte Technik hat, so erfolgreich sein kann“, sagte Weißflog.
Boklöv nahm seinen Konkurrenten pro Sprung sieben, acht Meter ab. Dass er trotzdem um seine Siege zittern musste, lag an den Abzügen bei den Haltungsnoten. Die Wertungsrichter mussten Boklöv abstrafen. Der V-Stil galt als unästhetisch.
„Häufig legten die Richter ihre Punkte für mich schon fest, bevor ich gesprungen war", sagte der Schwede kürzlich der Sport Bild: „So konnten sie im Wettkampf einen Jägermeister trinken, als ich sprang, weil sie ohnehin nur tatenlos zuschauten."
Tobjörn Yggeseth, Chef des Skisprung-Komitees, schimpfte seinerzeit über den neuen V-Stil: „Das ist ein Bruch der Skisprung-Tradition!“
Nikkola und Thoma schlagen zurück
Und er schien zunächst auch keine große Zukunft zu haben. In der Saison 1989/1990 dominierte wieder der Parallelstil. Ari-Pekka Nikkola aus Finnland gewann in der klassischen Technik den Weltcup, der Deutsche Dieter Thoma auf die Weise die Vierschanzentournee. Und Boklöv? So schnell wie der Skisprung-Pionier aus der Versenkung aufgetaucht war, verschwand er auch wieder.
Aber es gab Sportler, die seinen V-Stil kopierten. „Bei den Skispringern entstand eine Parallelgesellschaft“, beschrieb Weißflog bei SPORT1 die damalige Situation. Spätestens zu Beginn der Saison 1991/92 flog die neue Generation vorbei.
Weißflog wollte damals unbedingt in Albertville um die olympischen Medaillen mitspringen. Im Parallelstil waren die Chancen jedoch gering. „Wir haben versucht, vor Olympia die Welt zu retten.“
Blamage bei Olympia in Albertville
Die Umstellung im Hauruck-Verfahren gelang dem Sachsen nicht. Bei den Olympischen Spielen setzte Weißflog wieder auf den Parallelstil. Das Ergebnis war miserabel: Platz fünf mit der Mannschaft. Platz neun von der Normalschanze. Und beim Wettbewerb von der Großschanze blamierte sich Weißflog mit Rang 33.
Doch er gab nicht auf. „Ich habe ja gesehen, dass Sportler aus der alten Generation die Umstellung geschafft haben“, erklärte er. Nach zig Trainingssprüngen hatte er endlich den Dreh mit dem V-Stil raus. Die Erfolge stellten sich wieder ein: Weißflog wurde 1994 Olympiasieger von der Großschanze und mit dem Team. Und in der Saison 1995/96 gewann er zum vierten Mal die Vierschanzentournee - auch dank Boklöv und seinem missglückten Trainingssprung.
Der V-Stil von Boklöv wurde teuer
Seine versehentliche Erfindung hatte allerdings noch einen kostspieligen Nebeneffekt.
Durch den von ihm erfundenen V-Stil „musste jede Schanze im Auslauf umgebaut werden, weil alle auf einmal weiter flogen“, sagte der Schwede einst: „Ich war also sehr teuer“. Tatsächlich mussten als Folge auch mehrere Anlagen umgebaut werden.
Boklöv allerdings profitierte von seiner eigenen Revolution nur wenig. Als der junge Finne Toni Nieminen 1992 im V-Stil zweimal Olympiasieger wurde, landete der Erfinder nur auf Platz 47. Und beendete ein Jahr später seine Karriere.