Heinz-Florian Oertel, die legendäre Stimme des Ost-Sports, fing den historischen Moment auf seine ihm eigene, unnachahmliche Weise ein.
Das Drama des ersten DDR-Olympiahelden
„Das ist doch eine fabelhafte Leistung“, rief er ins Radiomikrofon, als Skispringer Harry Glaß am 5. Februar 1956 Olympia-Bronze auf der Normalschanze errang: „Jetzt können Sie weiter essen. Und vielleicht auch ein Glas Wein aufmachen.“
Glaß gewann in Cortina d’Ampezzo - wo auch die Winterspiele 2026 stattfinden werden - die allererste olympische Medaille für die DDR und die erste eines deutschen Skispringers. Es war der sportliche Höhepunkt für einen der besten deutschen Wintersportler seiner Zeit - dessen Karriere vier Jahre danach ein bitteres Ende nahm.
Schicksalsschlag in früher Jugend
Glaß wurde am 11. Oktober 1930 als Sohn eines Schuhmachers im sächsischen Klingenthal geboren und war eigentlich als Jugendlicher mit seinem Vater nach Wasserburg in Bayern ausgewandert. Ein Schicksalsschlag trieb ihn jedoch 1946 zurück in die Heimat und die damalige sowjetische Besatzungszone: Der Vater war tödlich verunglückt.
Der junge Glaß lernte ebenfalls den Schuhmacher-Beruf und arbeitete später für das Staatsunternehmen Wismut im Uran-Bergbau. Parallel dazu wurde in der wintersportaffinen Heimatstadt sein Skisprung-Talent erkannt und gefördert.
Glaß wurde ab 1954 dreimal in Folge DDR-Meister und stieß auch in die internationale Spitze vor, wie sein nationaler Konkurrent Werner Lesser und später der aufstrebende junge Rivale Helmut Recknagel.
Die große Besonderheit bei Glaß: Er war einer der ersten Springer, die den so genannten Fisch-Stil anwandten und beim Flug die Arme an den Hüften hielt statt sie wie damals üblich nach vorn zu strecken. Glaß wurde damals oft als ästhetisch ansprechendster Stilist seiner Zeit beschrieben.
Historischer Coup bei Olympia 1956
Glaß' größtes Jahr 1956 hätte noch größer werden können: Er lag zu Beginn des Jahres auch nach drei von vier Stationen bei der Vierschanzentournee in Führung, die damals Teil eines innerdeutschen Ausscheidungswettkampfes um die Olympia-Startplätze waren - 1956 gingen BRD und DDR mit einer gemeinsamen, gesamtdeutschen Mannschaft an den Start.
Weil die DDR-Springer das letzte Tournee-Springen in Bischofshofen aber dann ausließen, um sich stattdessen auf die Olympia-Vorbereitung zu konzentrieren, blieb Glass eine weitere geschichtsträchtige Errungenschaft verwehrt. Nikolai Kamenski aus der Sowjetunion gewann an seiner Stelle die Tournee, erster deutscher Sieger wurde 1958 Recknagel.
Auch in Cortina d’Ampezzo hatte Glaß zwischenzeitlich noch einen größeren Coup im Visier: Mit einem Sprung auf 83,5 Meter lag er nach dem ersten Durchgang in Führung. Im zweiten Durchgang fiel Glaß dann allerdings etwas ab (80,5), die favorisierten Finnen Annti Hyvärinen und Aulis Kallakorpi zogen vorbei und sicherten sich Gold und Silber.
Sturz-Drama beendete Karriere abrupt
1960 fand die Karriere von Glaß ein abruptes Ende: Bei einem Sturz im Training der Vierschanzentournee auf der Bergisel-Schanze erlitt er einen Trümmerbruch im rechten Knöchel.
Glaß musste die kurz darauf stattfinden Olympischen Spiele in Squaw Valley abschreiben, das Drama um den populären Skisprung-Pionier bewegte die DDR-Öffentlichkeit enorm: Am Krankenbett bekam er unzählige Genesungswünsche und auch Besuch vom Staatsratsvorsitzenden Walter Ulbricht und dessen späterem Erben Erich Honecker.
Glaß musste ein halbes Jahr mit Gips verbringen und kam sportlich nicht mehr auf die Beine: Ende 1961 trat er offiziell zurück, wurde danach Trainer beim SC Dynamo Klingenthal (und durch dessen staatliche Verflechtung auch Volkspolizist). Unter anderem coachte er die späteren Spitzenspringer Matthias Buse und Henry Glaß - mit seinem Namensvetter weder verwandt noch verschwägert.
Gesundheitlich ging es Glaß - abseits der Schanze als stiller Charakter beschrieben - in seinen letzten beiden Lebens-Jahrzehnten nicht gut: 1988 wurde er wegen eines Gehschadens infolge seiner Sturzverletzung offiziell Invalide, sechs Jahre zuvor hatte er auch einen Herzinfarkt erlitten. „Die Pumpe will schon seit langem nicht mehr so richtig“, zitierte ihn das Neue Deutschland nach seinem Tod. Autor des Nachrufs war der mit Glaß befreundete Ex-Boxer Wolfgang Behrendt, der in Melbourne 1956 erster DDR-Olympiasieger wurde und später Sportfotograf wurde.
Harry Glaß starb im Dezember 1997 (unterschiedliche Quellen sprechen mal vom 13., mal vom 14.) mit 67 Jahren in Rodewisch nahe seiner Heimatstadt.