Diese Story hat das Zeug zum Märchen!
Ein Grieche erobert die Skiwelt
Als sich nach dem Slalom der Herren bei der Ski-WM 2023 in Courchevel und Méribel Henrik Kristoffersen und Alexander Ioannis - kurz AJ genannt - Ginnis in den Armen lagen, hätte der Unterschied größer nicht sein können.
Auf der einen Seite der große Star Kristoffersen, der sich mit dem Sieg seinen zweiten WM-Titel nach dem Gold im Riesenslalom bei der WM 2019 holte. Der Norweger, seit dieser Saison mit Marcel Hirschers Skimarke Van Deer-Red Bull Sports unterwegs, hat fast unerschöpfliche Mittel und ein perfekt auf ihn ausgerichtetes Umfeld.
Auf der anderen Seite steht ein Grieche, der vom US-Verband gefeuert wurde, schon sechs Knie-Operationen hinter sich hat, seine Auftritte im alpinen Ski-Weltcup aus der eigenen Tasche bezahlt - samt Trainerteam - und nun die erste griechische Medaille bei einer Ski-WM eingefahren hat. (NEWS: Alles zum Ski alpin)
AJ Ginnis: Alles begann in einem kleinen Küstenörtchen bei Athen
Seinen Anfang nahm dieses Ski-Märchen in dem kleinen Küstenörtchen Vouliagmeni. Rund 20 Kilometer südlich des Stadtzentrums von Athen leben die rund 4.000 Einwohner dort hauptsächlich vom Meer. Sei es als Fischer oder vom Tourismus.
Umso verwunderlicher war der Wunsch, den Ginnis schon im Kindesalter hatte. Er wollte Ski-Profi werden. „Ganz ehrlich: Es war verrückt!“, erinnerte sich der 28-Jährige Anfang Februar in Chamonix. In Frankreich hatte er bereits Geschichte geschrieben. Als erstem Griechen gelang ihm der Sprung aufs Podest im Ski-Weltcup. Hinter dem Schweizer Ramon Zenhäusern fuhr er ebenfalls auf Rang zwei. (SERVICE: Alle Rennen und Ergebnisse)
Die Saat für diese Erfolge hatte sein Vater gelegt. Der war General-Importeur des österreichischen Skiherstellers Fischer in Griechenland und betrieb eine Skischule in Parnassos, ein Skigebiet in der Nähe von Delphi rund 230 Kilometer von Ginnis‘ Heimatörtchen entfernt. „Mein Vater hat den Sport geliebt. Ich habe meine ganze Freizeit dort verbracht. Meine Freunde haben sich gedacht, ich bin nicht ganz sauber. Aber heute verstehen sie es“, erzählte er damals im Gespräch mit der Kleinen Zeitung aus Österreich.
Schwerer Start und Verletzungspech bringen Karriere in Gefahr
Wie groß die Liebe zum Skifahren ist, zeigt sich in seinem Werdegang. Im Alter von zwölf Jahren zog er mit seinen Eltern ins österreichische Kaprun, um einen neuen Skishop zu eröffnen. Eine Zeit, die nicht leicht war für den Jungen. „Ich war sehr traurig am Anfang in Kaprun. Es hat mich ja keiner verstanden“, beschrieb er diese Phase.
Doch statt zu verzweifeln, stürzte er sich ins Lernen. Schon bald sprach er fließend Deutsch und auch auf der Piste wurde er immer besser. Über Freizeitrennen und Landescup-Wettbewerbe machte er sich einen Namen.
Um jedoch seinen Traum vom Ski-Profi weiter voranzutreiben, entschied er sich, im Alter von 15 Jahren sein Glück in den USA zu versuchen. Aufgrund seiner in New York geborenen Mutter mit der US-amerikanischen Staatsbürgerschaft ausgestattet, wechselte er auf die auf den Skisport spezialisierte Green Mountain Valley School in Vermont, die bereits die früheren Ski-Stars AJ Kitt und Daron Rahlves hervorgebracht hat.
Dort ging sein Aufstieg weiter. Im Alter von 16 gewann er seine ersten FIS-Rennen im Nachwuchsbereich und wurde 2012 ins Entwicklungsteam des US-Skiverbands aufgenommen. Doch dort begann ein Verletzungspech, das schon fast an einen Fluch erinnert. Insgesamt sechsmal musste Ginnis bis 2020 an den Knien operiert werden - dreimal wegen eines Kreuzbandrisses. Unter anderem verpasste er deswegen auch die Olympischen Spiele 2014 in Sotschi.
Stets kämpfte er sich zurück, um immer wieder den nächsten Rückschlag zu erleiden. Dem US-Skiverband wurde es irgendwann zu viel. Im Jahr 2020 wurde ihm mitgeteilt, dass er nicht weiter gefördert werde. „Sie haben gesagt, ich kann mitfahren, muss aber selber zahlen“, zitierte Ginnis die Verantwortlichen.
Nationenwechsel wird zum Glücksfall
An diesem Punkt zweifelte er erstmals selbst an seinem Traum. Allein seiner Mutter sei es zu verdanken, dass er nicht aufgegeben habe. „Hätte sie gesagt, such dir einen Job, dann hätte ich aufgehört. Aber sie hat immer an mich geglaubt.“
Er wechselte den Verband und fuhr von nun an für Griechenland. Denn „wenn ich schon zahlen muss, dann fahre ich als Grieche“. Und das wird sein Glück. Komplett auf eigene Finanzmittel angewiesen, wandte er sich an Gary Erickson, den Gründer des Energienahrungs- und -getränkeherstellers Clif Bar. Da dessen Mutter ebenfalls Griechin ist, war er sofort bereit, Ginnis zu unterstützen.
Dann rief er alte College-Freunde an, die mittlerweile in den USA und Kanada arbeiteten und rekrutierte sie für sein Privatteam. (SERVICE: Weltcupstände)
Der Rest ist Geschichte: Innerhalb weniger Wochen hat AJ Ginnis Griechenland auf die Ski-Landkarte gebracht. Die Fans staunen über seine Ausdauer, die ihm den Erfolg beschert hat. Er selbst hat dafür eine andere Erklärung: „Alle loben mich immer, dass ich so beharrlich bin und meine Ziele verfolge. Ich sage dann immer, ich bin einfach nur dämlich!“, sagte er lachend in Chamonix nach seinem ersten Coup.
Nun hat ihm diese „Dummheit“ auch noch WM-Silber beschert.