Es war eines der denkwürdigsten Wochenenden der Biathlon-Geschichte, vor und hinter den Kulissen.
„Krasser als eine Schrottpresse!“
Das dramatische Weltcup-Finale zwischen Siegerin Franziska Preuß und der unglücklich gestürzten Lou Jeanmonnot und das faire Miteinander im Anschluss, der emotionale Abschied der Bö-Brüder: Der Weltcup am legendären Holmenkollen in Oslo wird lange in Erinnerung bleiben. Olympiasieger Michael Rösch war als Eurosport-Experte hautnah dabei - und gibt im großen SPORT1-Interview neue Einblicke in die besonderen Geschehnisse.

Der Staffel-Champion von Turin 2006 spricht außerdem über seine Erwartungen an die Ära nach Bö, die Probleme bei den deutschen Männern - und die rosigen Aussichten für die Frauen, bei allerdings mächtiger Konkurrenz.
SPORT1: Herr Rösch, Franziska Preuß hat sich den Gesamtweltcup auf eine Art und Weise gesichert, wie es dramatischer kaum hätte sein können. Wie haben Sie die entscheidenden Minuten erlebt?
Michael Rösch: Es war unglaublich. Im Vorfeld gab es so viele Szenarien und am Ende ist es auf das Einfachste von allen hinausgelaufen - beide gehen auf Platz eins und zwei in die Schlussrunde. Hieß: Wer zuerst ankommt, gewinnt das Ding. Das Niveau war krank. Krank gut. Im Laufe der letzten Runde kämpfte sich noch Elvira Öberg wieder heran, musste dann aber wieder abreißen lassen. So konnten die beiden die Sache doch unter sich ausmachen. Und dann kam diese eine Kurve, wo ich nur dachte: Das darf doch nicht wahr sein. Im Ziel freute sich Franzi wegen Jeanmonnots Sturz erst gar nicht. Es lag für kurze Zeit ein kleiner Nebel über diesem Sieg.
„Franzi hat Lous Sturz nicht verschuldet“
SPORT1: Wie Sie es bereits ansprachen, verlor Jeanmonnot das Duell auf der letzten Runde durch einen unglücklichen Sturz. Wie bewerten Sie die Szene – hatten Sie kurz Angst, dass Preuß bestraft werden könnte?
Rösch: In der ersten Hektik dachte ich, die beiden hätte sich kurz mit ihren Skispitzen berührt. Schon bei der ersten Wiederholung merkte ich aber, dass sich Lou mit ihrem linken Stock hinten in den eigenen Ski gestochen hat. Klar, es war eng. Beide wollten die Ideallinie. Weil sich allerdings schnell herausstellte, dass sich die beiden gar nicht touchierten, hatte ich gar keine Angst vor einer Strafe. Franzi hat Lous Sturz nicht verschuldet.
SPORT1: Trotzdem drehte sich Preuß nach dem Zieleinlauf sofort um, wartete auf Jeanmonnot, ging zu ihr und tröstete sie.
Rösch: Die Art und Weise, wie Franzi direkt auf Lou zuging, ohne sich zu freuen, spricht absolut für ihre Menschlichkeit. Sie hat auch selbst gesagt, dass sie es sehr schade findet, wie es ausgegangen ist. Dadurch gehen die positiven Emotionen zum Teil verloren. Ihr wäre es lieber gewesen, wenn der Gesamtweltcup in einem Eins-gegen-Eins-Duell auf der Zielgeraden entschieden worden wäre. Auf der anderen Seite war es ein brutales und gleichzeitig auch ein schönes Bild, dass Franzi mit ihrem Kopf direkt bei Lou war und sich vergewissert hat, was wirklich passiert ist.
Fairness im Biathlonsport
SPORT1: Jeanmonnot zeigte sich trotz aller Enttäuschung äußerst fair - zeichnet diese Fairness den Biathlonsport aus?
Rösch: Auf jeden Fall. Zu Beginn der Saison sahen sich Franzi und Lou eher als Konkurrentinnen. Sie respektierten sich, hatten jedoch keinen innigen Kontakt zueinander. Irgendwie spürte man aber: Je länger die Saison dauerte und je spannender der Kampf wurde, desto enger wurde die Beziehung. Sie umarmten sich viel öfter, verneigten sich immer wieder voreinander - umso passender sind die Bilder aus dem Zielbereich in Oslo gewesen. Eine gewinnt eines der größten Dinge überhaupt, die andere verliert es und trotzdem liegen sich beide in den Armen und weinen zusammen. Das waren sehr, sehr emotionale Bilder, die ich so schnell nicht vergessen werde und die sehr viel über den Biathlonsport aussagen.
SPORT1: Bei der großen Abschlussparty am Sonntag trug Preuß sogar eine französische Jacke, Jeanmonnot wiederum eine deutsche.
Rösch: Genau. Ich war auch da und plötzlich stand Franzi mit der Frankreich-Jacke vor mir, zehn Sekunden später lief Lou in einer Deutschland-Jacke vorbei. Beide verbrachten danach noch viel zusammen und Franzi meinte: Lou ist heute Franzi und Franzi ist Lou. Das war superschön und speziell zu sehen. Aber nicht nur, wie sich die beiden verhalten haben, sondern auch alle anderen. Trainer, Wachser, Betreuer aus Frankreich und Deutschland, alle haben gemeinsam gefeiert und Bier getrunken. Es gab keine Missgunst, das ganze Drama um den Sturz war da längst vergessen.
„Lou wollte von Anfang an keinen Protest“
SPORT1: Obwohl Jeanmonnot den Fehler bei sich sah, legte das französische Team zunächst Protest ein. Später wurde dieser jedoch zurückgezogen. Glauben Sie, dass dies auf Wunsch der Athletinnen passierte?
Rösch: Lou wollte, so sagte es mir Franzi, von Anfang an keinen Protest. Ich kenne die französischen Trainer gut und glaube, dass sie die Bilder nur generell einmal sehen wollten. Viele stehen während der Rennen woanders an der Strecke und haben die Situation vielleicht nicht richtig mitbekommen. Es hätte ja wirklich sein können, dass Franzi sie zu Fall gebracht hat. Aber bei den Franzosen gibt es niemanden, der sagt: Wir wollen das unbedingt am grünen Tisch gewinnen. Deshalb haben sie den Protest auch schnell zurückgezogen, und das war gut so.
Franzi kann Druck „krasser aushalten als eine Schrottpresse“
SPORT1: Weil Preuß sowohl das Schießen als auch das Laufen sehr gut beherrscht, war ihr Potenzial immer unbestritten. Doch Verletzungen und Krankheiten bremsten sie in ihrer Karriere oft aus. Hand aufs Herz: Hätten Sie es für möglich gehalten, dass sie sich ihren Traum vom Gesamtweltcup noch erfüllen kann?
Rösch: Zu 99,9 Prozent ja. Die 0,1 Prozent fehlen eben wegen ihrer Krankheiten und Verletzungen, unter denen sie oft litt. Ich war mir aber relativ schnell sicher, dass diese Saison der Winter sein kann, in dem sie es schafft. Franzi lief so viele konstant gute Rennen und landete nur viermal außerhalb der Top 6. Und was mich fast noch mehr beeindruckt hat, war, wie sie selbst aus schwierigen Situationen wie der Niederlage im Verfolger in Oslo wieder herausgekommen ist. Was Franzi für eine Rübe hat, wie mental stark sie ist - sie kann Druck aushalten, das ist krasser als eine Schrottpresse. Sie hatte so viel Druck, aber wie sie das weggesteckt hat und bis zum letzten Rennen ihren Weg gegangen ist, war herausragend.
Bö-Brüder sind „zwei absolute Ikonen“
SPORT1: Neben dem großen Triumph von Franziska Preuß bestimmten die letzten Rennen von Johannes Thinges und Tarjei Bö die Schlagzeilen. Wie haben Sie deren Abschiede erlebt?
Rösch: Ich war selbst schon oft in Oslo und bin dort viele Rennen gelaufen, aber an eine so grandiose Stimmung kann ich mich nicht erinnern – selbst bei der Weltmeisterschaft 2016 nicht. Da realisierte man direkt, wer hier zurücktritt. Das sind nicht ein oder zwei Handlampen, sondern zwei absolute Ikonen. Ein Brüderpaar, das Geschichte geschrieben hat. Dass unter anderem Martin Fourcade extra angereist ist, zeigt die Wertschätzung. Verrückt fand ich den Sonntag: Tarjei greift sich hinten im Feld die Fahne und lässt sich feiern, Johannes Thinges kämpft bis zum Schluss um Platz sechs und lässt sich von Jakov Fak auf der Zielgeraden niedersprinten. Es war fast surreal, weil es so schnell vorbei war. Ich dachte, er bleibt vielleicht sogar stehen und winkt nochmal ins Publikum. Aber nein, er zog es komplett durch.
SPORT1: Was hat die beiden so besonders gemacht – einerseits sportlich, vor allem aber auch darüber hinaus?
Rösch: Vor einer halben Stunde hat mir Tarjei noch eine Nachricht geschickt: „Danke dir mein Guter. Es waren unheimlich geile Jahre.“ Wir waren nicht die besten Freunde, aber so etwas bedeutet einem viel. Sie sind einfach unglaublich menschlich und kommen überall gut an, teilweise Kind geblieben, teilweise aber auch so professionell. Johannes Thinges war ein Supertalent, er hat diese Fähigkeiten von Gott geschenkt bekommen. Tarjei hingegen der akribische Arbeiter, der sich immer wieder herankämpfen musste - und am Ende sprechen die Zahlen für sich. Sie haben alles gewonnen, was es zu gewinnen gibt. Das wird es so schnell nicht wieder geben.
SPORT1: Johannes Thingnes Bö ist erst 31 Jahre alt und ihm fehlen nur noch wenige Siege zum ewigen Weltcup-Rekord von Ole Einer Björndalen. Können Sie es sich vorstellen, dass es ihm in ein paar Jahren doch nochmal in den Fingern juckt?
Rösch: Nein, auf gar keinen Fall. Johannes Thingnes und Tarjei haben ja sogar schon angekündigt, sie richtig fett werden und man sie in sechs Monaten nicht mehr wiedererkennt, dann wäre das sowieso nicht mehr möglich (lacht). Ich weiß allerdings nicht, wie sehr Johannes Thingnes wirklich kratzt, dass er diese Benchmark nicht erreicht hat. Wenn er nur ein Jahr drangehangen hätte, hätte er es locker schaffen können. Aber das ist wieder der Punkt: Dass ihm die Zahlen am Ende egal waren, das macht ihn zum Menschen.
SPORT1: Die Bö-Brüder hinterlassen eine große Lücke. Wer wird denn jetzt in den nächsten Jahren bei den Herren das Maß aller Dinge sein?
Rösch: Sturla Holm Laegreid wäre die logische Antwort, ich glaube aber nicht, dass wieder jemand so sehr dominieren wird. Aus dem einfachen Grund, weil es einige Kandidaten gibt, die ganz weit oben mitmischen können. Auch Eric Perrot ist meiner Meinung nach ein großer Anwärter auf das Gelbe Trikot. Ebenso Tommaso Giacomel und Campbell Wright, wenn sie noch etwas mehr Konstanz in ihre Leistungen bringen. Nicht zu vergessen Isak Frey, ein sehr junger Norweger. Oder große Namen wie Quentin Fillon Maillet, wenn er seine Schießprobleme in den Griff bekommt.
SPORT1: Und wie sieht es mit den deutschen Männern aus? Die Schießschwäche wirft einen Schatten auf die Saison. Lässt sich das Problem bis zu den Olympischen Winterspielen 2026 lösen?
Rösch: Es wird sehr schwer, aber es ist machbar. Manches kann sich schnell verbessern, wenn man in eine Art Flow kommt. Wenn man mit den Jungs spricht, hört man immer wieder, dass sie im Training auf einem sehr hohen Niveau sind. Es fehlt jedoch der Transfer in den Wettkampf. Daran müssen sie arbeiten, sie müssen es auch dort schaffen. Wie man im Training schießt, interessiert am Ende keine Sau mehr. Man muss jetzt im Training Reibungsflächen schaffen, um mit dem Druck im Wettkampf besser umgehen zu können. Dazu braucht es ein gutes Konzept.
Frankreich läuft Deutschland den Rang ab
SPORT1: Bei den Frauen überstrahlt der Triumph von Preuß natürlich alles. Aber auch die jüngeren deutschen Biathletinnen haben einen guten Winter hingelegt. Wie beurteilen Sie die Leistungen von Athletinnen wie Selina Grotian oder Julia Tannheimer?
Rösch: Selina ist Neunte im Gesamtweltcup und erst 21 Jahre alt, Julia Tannheimer sogar noch zwei Jahre jünger. Über die beiden braucht man nicht zu diskutieren, sie bringen alles mit, was man für eine erfolgreiche Karriere braucht. Wenn die beiden in Ruhe ihren Weg gehen, sind das zwei Namen, die eines Tages ganz vorne stehen können. Was dahinter passiert, muss man abwarten: Wann kommt Janina Hettich-Walz wieder? Wie sieht es mit Vanessa Voigt aus? Was passiert mit Johanna Puff? Julia Kink musste ihre Saison vorzeitig beenden - es gibt also schon fünf, sechs Namen, bei denen es gut aussieht. Ich will nicht alles in den Himmel loben, aber die Basis ist auf alle Fälle vorhanden.
SPORT1: Dennoch scheint eine andere Nation bei den Frauen gerade zu enteilen: Frankreich. Im Gesamtweltcup platzierten sich fünf Französinnen unter den Top 8, darunter einige sehr junge Athletinnen - und auch im zweitklassigen IBU-Cup bestimmen die Französinnen das Geschehen. Droht hier eine ähnliche Dominanz wie in den vergangenen Jahren bei den norwegischen Männern?
Rösch: Es sieht fast so aus. Ich bin mit meinem ehemaligen belgischen Team noch viel in Kontakt. Und selbst da schickt der Generalsekretär die Nachwuchsathleten mittlerweile nach Frankreich. Teilweise starten dort über 500 Läuferinnen und Läufer bei regionalen Rennen, trotzdem liegen zwischen dem ersten und dem 50. Platz manchmal nur eineinhalb oder zwei Minuten. Was wir derzeit mit Océane Michelon, Jeanne Richard oder auch Paula Botet sehen, ist nur die Spitze des Eisbergs. Da können noch unheimlich viele Athletinnen nachkommen. Sie zehren von den Erfolgen der letzten Jahre, die TV-Quoten sind top, alle Kinder wollen Biathlon betreiben.