Nicht überrundet werden. Mehr wollten Ukaleq und Sondre Slettemark, ein Geschwisterduo aus dem fernen Grönland, das am Donnerstag gemeinsam in der Single-Mixed-Staffel antrat, gar nicht. Als Sondre dann tatsächlich knapp über dreieinhalb Minuten nach der siegreicher Mannschaft Julia Simon und Quentin Fillon Maillet aus Frankreich die Ziellinie überquerte, sie sich ihren Traum erfüllten und endgültig zu den heimlichen Helden des Tages avancierten, musste natürlich eine besonders coole Geste her. Also legte der 20-Jährige einen Finger auf den Mund und blickte selbstbewusst in die Kamera.
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Ein Stück Biathlon-Geschichte
Blöd nur, dass er zu diesem Zeitpunkt längst am Ende seiner Kräfte, für einige Sekunden nicht mehr Herr seiner Sinne war. So verlor Sondre schlagartig die Kontrolle auf seinen Ski, geriet in Rücklage und krachte vollkommen ausgepumpt in den Schnee von Lenzerheide. Was cool geplant war, wurde zu einem leicht peinlichen Moment. Dazu brach bei dem Sturz auch noch ein Stück seines Gewehrs. „Dieser komische Typ, was für ein Idiot“, kommentierte Schwester Ukaleq das später auf Instagram gepostete Malheur mit einem Augenzwinkern - das kuriose Ende eines ansonsten historischen und vor allem emotionalen Staffel-Auftritts.
Slettemark: „Musste fast weinen“
Frankreich, Norwegen und Deutschland gingen zur Siegerehrung, Geschichte aber schrieben sie. Nie zuvor stellte Grönland ein Team bei einer Wintersport-WM, Ukaleq und Sondre waren die ersten. „Unser großes Ziel lautete, irgendwie bis zur Ziellinie zu kommen - das haben wir geschafft, auch wenn das Rennen nicht optimal lief und ich eine Strafrunde geschossen habe“, sagte Sondre mit funkelnden Augen. Ukaleq gab zu, dass sie „fast weinen musste, als Sondre die letzten Meter zurück ins Stadion kam“. Was ihnen dieser Tag bedeutete, war unübersehbar. Kein anderes Duo grinste in der Mixed Zone annähernd so viel. Platz 23 fühlte sich wie ein Sieg an.
Medaillen, Triumphe, Niederlagen, große Dramen - davon handeln im Normalfall die Themen, die bei Weltmeisterschaften alle Schlagzeilen bestimmen. Und doch sind es auch diese „Exoten“-Geschichten, die das eigene Flair ausmachen, die für eine spezielle Stimmung sorgen. „Wir hatten sogar sieben Fans an der Strecke, das ist großartig“, merkte Sondre an und witzelte weiter: „Prozentual zur Gesamtbevölkerung hatte bestimmt keine andere Nation so viele Unterstützer wie wir hier.“ Nachher suchten Ukaleq und Sondre ihre Anhänger auf, machten samt der grönländischen Flagge noch ein gemeinsames Foto.
Die Slettemarks und das Gefühl eines „Familienurlaubs“
Die große Begeisterung für den Sport kommt bei den Geschwistern nicht von ungefähr, sie wurde ihnen von den Eltern in die Wiege gelegt. Beide gelten als Pioniere des grönländischen Biathlons. Mutter Uiloq startete in den 2000er Jahren über 80 Mal im Weltcup und verpasste nur deshalb Olympia 2002, weil sie während der Spiele in Salt Lake City mit Ukaleq schwanger war. Diese Ehre blieb schließlich ihrem Vater Oystein vorbehalten, der dann acht Jahre später in Vancouver als erster grönländischer Olympionike im Männer-Biathlon überhaupt an den Start ging.
Nun setzen Uiloq und Öystein den Versuch, ihre Passion in Grönland populärer zu machen, auf anderer Ebene fort, geben ihr Know-How weiter und trainieren ihre Kinder. „Unser Team besteht hier aus vier Personen: meiner Mutter, meinem Vater, meinem Bruder und mir - das ist so ziemlich auch unser gesamter Verband“, lachte Ukaleq. „Es fühlt sich ein bisschen wie ein Familienurlaub an.“ Immer wieder fallen die Worte „Spaß“ und „Stolz“. Und obwohl in der Loipe noch Welten fehlen, ist auch das sportliche Potenzial ein Thema. Vor allem beim Schießen klappt es schon richtig gut. Das hat seine Gründe.
Immerhin kamen Ukaleq und Sondre Slettemark in den Genuss einer ganz besonderen Ausbildung. Nicht allerdings auf einem Schießstand, sondern in der freien Natur. Schon als Kinder seien sie mit ihren Eltern auf Rentierjagd gegangen, der Umgang mit dem Gewehr gehöre auf der lediglich 56.000 Einwohner zählende Insel im Nordpolarmeer zum alltäglichen Leben, erzählte Ukaleq. Kein Zufall also, dass ihre Stärken auf der Schießmatte liegen - dort sorgt die Junioren-Weltmeisterin von 2019 mit schöner Regelmäßigkeit für Furore.
„Wir sind wirklich sehr, sehr gute Freunde“
In der Schweiz bestreitet die 23-Jährige ihre vierte Weltmeisterschaft, dazu war sie bei Olympia 2022 in Peking dabei. Damals traf Ukaleq im Einzel und im Sprint trotz widrigster Verhältnisse am Schießstand wie ein Uhrwerk, hatte als einzige Athletin des gesamten Feldes 30 von 30 Scheiben abgeräumt und damit eine perfekte Trefferquote von 100 Prozent vorzuweisen. Im Januar 2023 belegte sie beim Weltcup in Ruhpolding, wiederum im schießlastigen Einzel, sensationell den 21. Rang und qualifizierte sich erstmals für einen Massenstart. Es waren die ersten Weltcup-Punkte überhaupt für ihr Land.
Bruder Sondre, noch einmal drei Jahre jünger als Ukaleq, zeigte im zweitklassigen IBU-Cup zuletzt ähnlich gute Ansätze. Im italienischen Ridnaun belegte er erst Platz acht im Sprint, danach den 14. Rang in der Verfolgung und die 13. Position im Massenstart - jetzt mischen sie gemeinsam bei den Besten mit. Ob es da nicht schwierig sei, mit der eigenen Schwester zu reisen oder es oft Streit gibt? Sondre begann zu lachen, Ukaleq klärte auf: „Wir sind wirklich sehr, sehr gute Freunde. Alle sagen, man sollte vorsichtig sein, wenn man ständig mit seinem Bruder unterwegs ist, aber wir kommen sehr gut miteinander aus.“ Konflikte seien selten.
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Umso zuversichtlicher schauen beide bereits auf das nächste große Fernziel nach vorne: die Winterspiele 2026 in Mailand und Cortina d‘Ampezzo. Weil das Internationale Olympische Komitee (IOC) Grönland offiziell als autonomen Teil des Königreichs Dänemark und nicht als eigenständiges Land anerkennt, würden sie dort wahrscheinlich zur dänischen Delegation gehören, so wie Ukaleq bereits 2022. „Natürlich hoffen wir, Grönland eines Tages auch bei den Olympischen Spielen vertreten zu können“, betonte Sondre, „aber zuerst müssen wir über die Unabhängigkeit diskutieren.“
Scherzhaft meinte der Schwede Sebastian Samuelsson sagte nach der historischen Staffel: „Donald Trump sollte besser aufpassen“, weil die Slettemarks so „gut im Schießen“ seien. Der Hintergrund: Seit Wochen sorgt der US-Präsident mit seinen Drohgebärden, Grönland kaufen oder annektieren zu wollen, für Empörung. „Wir versuchen, nicht zu viel über Politik zu reden“, antwortete Sondre lächelnd, stellte aber klar: „Die grönländische Flagge auf der internationalen Bühne zu vertreten, ist fantastisch.“ Deutlicher hätten es die Geschwister Slettemark am Donnerstag auch kaum zeigen können.
Keine Medaille, nichts mit der Entscheidung am Hut - und doch waren Ukaleq und Sondre Slettemark die heimlichen Gewinner des Tages. „Die Single-Mixed-Staffel ist der perfekte Wettbewerb für uns, weil unser Team nur aus zwei Leuten besteht“, sagte Ukaleq und kündigte gleich an, in Zukunft erneut angreifen zu wollen: „Ich glaube, dass wir irgendwann bessere Chancen haben werden, wenn wir unsere Form etwas stärker ist.“ Eine Bereicherung für den Biathlonsport sind die beiden aber auf jeden Fall schon jetzt.