Es schien eine Zeit zu sein, die nicht aufhören wollte, plötzlich aber doch endete. 984 Tage - so lange wartete Sivert Bakken auf diesen Moment.
“Die härteste Zeit meines Lebens”
Endlich wieder volle Pulle raus auf die Rennstrecke, um all die Gefühle zu erleben, die er eine gefühlte Ewigkeit vermisst hatte: den erbarmungslosen Kampf gegen die tickende Uhr, zehn Kilometer in der schwedischen Kälte von Idre Fjäll, zehn Kugeln möglichst präzise aus dem Kleinkalibergewehr feuern.
Hoffnungsvolles Comeback
Verlernt hatte es der Norweger nicht, wie sich schnell herausstellen sollte. Platz zehn im Sprint. Gemessen an seiner Leidenszeit war es ein furioses Comeback, das er am 28. November im IBU-Cup, der zweiten Liga des Biathlons, in den Schnee zauberte. Eines, das Bakken in den folgenden Wochen noch veredeln sollte. Fünf weitere Top-Ten-Resultate gelangen dem 26-Jährigen in den ersten acht Rennen - darunter ein Podestplatz.
„Der Start in die Saison ist für mich sehr gut gelaufen. Ich bin extrem glücklich und richtig froh, wieder dabei zu sein“, freute sich Bakken im Gespräch mit SPORT1 über seine gelungene Rückkehr. Denn der Mann aus Lillehammer war lange von der Bildfläche verschwunden.
Seit dem Frühjahr 2022, um genau zu sein. Damals fuhr Bakken im Weltcup reihenweise Spitzenresultate ein und war drauf und dran, endgültig in der Elite dieses Sports anzukommen. In der vorletzten Woche des Winters holte er in Otepää neben einem Sieg mit der Mixed-Staffel auch sein erstes Einzelpodest, ehe er beim Saisonfinale in Oslo seinen bisher größten Erfolg feierte: Im abschließenden Massenstart gewann er fehlerfrei im Zielsprint gegen Sturla Holm Laegreid sein erstes Einzelrennen im Weltcup und damit zugleich die kleine Kristallkugel in dieser Disziplin. In der Gesamtwertung wurde er Neunter.
Bakken: „Es wurde immer schlimmer und schlimmer“
Einziger Haken: Wenige Tage später war sein steiler Aufstieg auch schon wieder vorbei. Wegen einer Herzmuskelentzündung, die als Folge der dritten COVID-19-Impfung auftrat, konnte er auf einmal nur noch sehr eingeschränkt trainieren.
„Ich hatte damit extra bis zum Ende der Saison 2022 gewartet, weil ich nichts riskieren wollte. Am Anfang ging es noch gut. Aber nach etwa drei bis vier Wochen fühlte sich mein Körper einfach nicht mehr normal an. Es wurde immer schlimmer und schlimmer“, erinnerte sich Bakken an eine Zeit, in der er überhaupt keinen Sport treiben konnte und auch im Alltag nicht an mehr als 30 Minuten Bewegung pro Tag zu denken war.
Geduld war gefordert
Viele Stunden musste Bakken auf dem Sofa verbringen. Eine harte Geduldsprobe für einen Sportler - die dadurch erschwert wurde, dass lange Zeit nicht klar war, was mit seinem Körper eigentlich los war.
„Es hat den ganzen Sommer gedauert, also fast ein halbes Jahr, bis ich eine Diagnose bekam“, schilderte der Norweger. „Deshalb wusste ich auch nicht, wie lange ich mit dem Biathlon aussetzen musste und wann eine Rückkehr möglich sein würde. Ich konnte nur jeden Tag auf meinen Körper hören und hoffen, dass es besser wird. Das war die härteste Zeit meines Lebens. Aber ganz ehrlich: Ich bin im Nachhinein sogar froh darüber, dass ich nicht von Anfang an wusste, wie lange das alles dauern würde. Zweieinhalb Jahre sind unglaublich hart“, führte er aus.
Karriereende im Hinterkopf
Im Dezember 2022 gab der Biathlet bekannt, seit nun sechs Monaten nicht mehr physisch trainiert zu haben und sich nur Schießübungen zu widmen. Die Saison 2022/23 verpasste er komplett, seinen Platz in der Nationalmannschaft behielt er dennoch.
Weil sich aber auch nach über einem Jahr keine gesundheitliche Besserung einstellte, sagte er den Winter 2023/24 ebenso ab. „Dass ich da viele Zweifel hatte, ist logisch“, so Bakken, der offen zugab, Angst vor einem vorzeitigen Karriereende gehabt zu haben. Doch seine vielen starken Resultate unmittelbar vor der so langen Zwangspause halfen ihm dabei, den Fokus trotz aller Rückschläge auf den Sport halten zu können.
Biathlon-Training erst 2024 wieder möglich gewesen
„Wenn ich gerade eine schlechte Saison hinter mir gehabt hätte, die mich sowieso schon frustriert hätte, wäre es noch viel schwieriger gewesen, diese lange Pause durchzustehen“, führte Bakken seine Gedanken weiter aus. Zu wissen, wo man herkommt und was man wirklich drauf hat, sei für ihn daher die größte Motivation gewesen.
„Andererseits war es umso schlimmer, nicht das tun zu können, was man am besten kann“, ergänzte er. Im Laufe des Jahres 2024 sah der frühere Weltcup-Sieger aber endlich Licht am Ende des Tunnels, sein Gesundheitszustand verbesserte sich merklich.
Guter Re-Start
Zuerst nahm Bakken das physische Training wieder auf, dann bestritt er beim norwegischen Saisonauftakt im November 2024 in Sjusjoen seine ersten Wettkämpfe nach über zwei Jahren Pause - und das mit überraschend großem Erfolg: Mit den Plätzen 13 und 16 qualifizierte er sich auf Anhieb für das IBU-Cup-Team.
Angesichts der unglaublichen Leistungsdichte in Norwegen keine Selbstverständlichkeit. „Meine Form ist natürlich noch lange nicht so gut wie vor zweieinhalb Jahren. Aber die ersten Ergebnisse waren viel besser, als ich erwartet hatte“, freute sich Bakken. Wohl wissend, dass die Zeitentabellen weiterhin keine oberste Priorität haben.
„Die Ergebnisse sind eine Sache, aber das Gefühl ist auch essenziell. Klar habe ich den ständigen Wettkampf vermisst, die Duelle mit anderen Athleten aus anderen Ländern. Aber für mich ist es immer noch das Wichtigste, dass ich mich gut fühle, dass ich trainieren kann und dass ich in meiner Freizeit machen kann, was ich will“, spielte Bakken auf die Probleme an, die er selbst mit den einfachsten Dingen des Alltags hatte: „Als es mir richtig schlecht ging, war an Wettkämpfe überhaupt nicht zu denken. Da ging es nur darum, in einen normalen Rhythmus zu kommen - und dann erst ans Training“.
Weltcup-Rückkehr? „Ich weiß, wie schwer es wird“
Dennoch zeigen ihm die ersten Rennen, dass es möglich ist, wieder auf das höchste Level zu kommen. Wann es zurück in den Weltcup geht? „Das ist eine gute Frage. Die Jungs sind richtig stark und legen immer mehr zu. Ich weiß, wie schwer es wird, deshalb muss ich langfristig denken“, antwortete Bakken mit Blick auf die nationale Konkurrenz, die kaum besser sein könnte.
Die Etablierten wie Johannes Thingnes Bö und sein Bruder Tarjei Bö, Sturla Holm Laegreid oder Vetle Sjastad Christiansen haben ihre Plätze im A-Team so gut wie sicher. Dahinter macht die junge Garde um Endre Strömsheim, Vebjörn Sörum und Martin Uldal mächtig Dampf.
„Wenn es gut läuft, ist im nächsten Winter vielleicht etwas möglich“, glaubt Bakken, der sich zwei Fernziele gesetzt hat, an denen er gerne teilnehmen möchte: die Weltmeisterschaften 2029 in der norwegischen Hauptstadt Oslo und die Olympischen Winterspiele ein Jahr später in den französischen Alpen.
Bis dahin bleibt ihm noch viel Zeit, den großen Rückstand der vergangenen zweieinhalb Jahre aufzuholen und wieder ganz oben zu stehen. Die ersten Etappenziele sind jedenfalls schon erreicht.