Alles scheint perfekt in dieser Hochglanz-Sportwelt, mehrere hundert Loipenkilometer spulen die Biathletinnen pro Saison ab, abertausende Reisekilometer, um die Beste ihrer Sportart zu krönen. Strahlende Gesichter auf dem Siegerpodest, enttäuschte daneben.
„Keine Lust auf Versteckspielen!“
Doch was ist eigentlich, wenn all das nicht mehr funktioniert? Nicht, weil die Leistung nicht passt, auch nicht, weil es der Körper nicht zulässt, sondern vielmehr, weil die psychische Verfassung nicht mehr mitspielt?
Vanessa Voigt weiß inzwischen, wie sich das anfühlt. Deutschlands beste Biathletin der vergangenen Saison, die Thüringerin wurde Gesamtweltcup-Achte, machte in den Sommermonaten auf ihren ausgelaugten Zustand aufmerksam. „Die letzten Wochen waren alles andere als fortschrittlich. Um ehrlich zu sein: Sehr hart. Manche nennen es ‚mental breakdown‘, ich nenne es Anlass zum Selbstschutz“, schrieb Voigt unter ihrem bemerkenswert offenen Instagram-Post, der einen tiefen Einblick in ihre Psyche zuließ.
Sportler hetzen von Ziel zu Ziel
„Was viele nicht sehen, ist die Person Vanessa. Ein Mensch, welcher jedes Mal das Salz beim Kochen vergisst, den Kleiderschrank nach Farben sortiert oder in ein Nutella-Glas lieber mit dem Löffel als dem Messer geht. Und genau dieser Person ging es nicht gut“, hieß es weiter: „Als Sportler hetzt man von Ziel zu Ziel.“ Man habe keine Zeit zum Durchatmen und es sei verdammt schwer gewesen zu akzeptieren, die Energie für die große Leidenschaft nicht mehr aufwenden zu können.
Einige Monate später, bei der alljährlichen Einkleidung der Sportler durch den Deutschen Ski-Verband auf dem Messegelände in Nürnberg, sprach SPORT1 exklusiv mit der Top-Athletin. Über ihre mentalen Probleme – und wie sie es trotzdem schafft, in die sportliche Zukunft zu blicken. Denn immerhin fällt schon am 30. November in der Single-Mixed-Staffel im finnischen Kontiolahti der Startschuss der neuen Weltcup-Saison.
Keine Lust auf Versteckspielen
„Ich bin ein sehr direkter Mensch, ich sage einfach, was ich denke oder was ich fühle. Ich habe einfach keine Lust auf Versteckspielen“, sagte Voigt rückblickend über ihren Post, der in Sport-Deutschland auf viel Anerkennung stieß.
Und Voigt weiter: „Ich glaube, gerade das Thema mentale Gesundheit ist sehr wichtig im Sport und deshalb wollte ich einfach mal sagen: ‚Okay, es gibt jetzt nicht immer die perfekte Sportlerin‘.“
Doch wie konnte es bei der Selbstreflexion überhaupt dazu kommen? Hatte Voigt in der Leistungsgesellschaft Profisport gar zu hohe Ansprüche an sich selbst, war der Druck zu groß? „Natürlich bin ich sehr hart (zu mir selbst; Anm. d. Red.), aber ich glaube, genau deshalb stehe ich auch da, wo ich gerade stehe. Würde ich mir nicht selbst ständig neue Ziele stecken und vielleicht auch ein bisschen zu hohe, dann würde ich das alles ein bisschen lockerer sehen und vielleicht nicht so fokussiert an das Ganze rangehen“, bilanzierte Voigt bei SPORT1.
Freizeit tut gut
Die erste Zutat für den Reset war also ziemlich simpel: Einfach einmal abschalten! „Ich habe mich selbst irgendwie etwas vergessen oder verloren. Ich glaube schon, dass mir die (freie; Anm. d. Red.) Zeit sehr gutgetan hat, weil ich einfach mal nicht die Sportlerin Vanessa war, sondern einfach der Mensch. Ich war einfach mal Schwester, war mal Tochter, war mal Freundin“, so Voigt.
Danach galt es wieder, das richtige Maß an Forderungen an sich selbst, gepaart mit dem nötigen Augenmerk auf das eigene Wohlbefinden zu finden: „Ich glaube, dass ich da mittlerweile schon eine gute Balance gefunden habe, selbstkritisch zu sein, aber vielleicht auch nicht zu sehr.“
Denn die Ambition, die quatsche ihr nie ein Trainer auf, nicht die Fans, nicht die Familie: „Mein innerer Antrieb sagt mir schon, dass ich eine Einzelmedaille will und brauche!“
Die Einzelmedaille soll her
Die Rede ist von den Biathlon-Weltmeisterschaften, ausgetragen zum ersten Mal in der Geschichte in der Schweiz, Mitte Februar in Lenzerheide. „Man reißt sich das ganze Jahr über den Arsch auf und natürlich ist eine Teammedaille total cool, aber so eine Einzelmedaille zeigt einfach nochmal, für was man wirklich die ganze Zeit kämpft und hart gearbeitet hat. Das fehlt noch ein bisschen in meiner Sammlung.“
Das Strahlen in den Augen lässt durchschimmern: Die Lust ist spätestens beim Abholen der 50 bis 60 Kleidungsstücke in Nürnberg für die neue Saison wieder gänzlich entfacht. Voigt denkt sogar noch einen Schritt weiter: „Wir haben im Lehrgang festgestellt: Wir kommen doch in ein Alter, in dem wir mittlerweile von den Jüngeren Omas genannt werden.“
Zwar sei sie mit 27 Jahren noch im besten Biathlon-Alter, durch das frühe Karriereende der Überfliegerin Magdalena Neuner respektive Laura Dahlmeier scheint jedoch in Deutschland eine Art „Lieber früher als später“-Mentalität eingekehrt zu sein. „Ich fühle mich definitiv nicht alt, aber man merkt natürlich, dass die Zeit rennt und dass man diesen Sport einfach nicht mehr für ewig machen kann“, sagte Voigt.
„Deshalb stehen die Olympischen Spiele auch schon im Fokus!“ Cortina d‘Ampezzo und Mailand werden Ausrichter sein 2026. Dann will Vanessa Voigt um Einzelmedaillen beim größten Multisport-Event der Welt mitmischen. Auf der faszinierendsten aller Bühnen, mit diesem unvergleichlichen Hochglanzanstrich. Sofern der Kopf mitspielt.