Das deutsche Biathlon-Team hat die WM in Nove Mesto mit einer Silber- und zwei Bronzemedaillen abgeschlossen. Vor allem das Material verhinderte eine bessere Ausbeute. Doch mit Selina Grotian hat der DSV einen Lichtblick für die Zukunft.
„Eine Medaille entschärft Kritik“
Im SPORT1-Interview spricht Olympiasieger Eurosport-Experte Michael Rösch über die Materialkomplikationen, ein mögliches Karriereende von Benedikt Doll und den Umgang mit Kritikern auf den Social-Media-Kanälen.
SPORT1: Herr Rösch, die Biathlon-WM wurde von Materialproblemen überschattet. Erklären Sie doch bitte, was genau da schiefgelaufen ist?
Michael Rösch: Das war ja das überall wabernde Thema, die Skiproblematik. Es hat aber nicht nur die Deutschen betroffen. Wobei es eigentlich keine Problematik war - es war halt nur schwierig zu wachsen. Die Verhältnisse in Nove Mesto waren schwierig, es war Kunstschnee, teilweise nass. Abends hat es dann bei den Rennen angezogen. Es wurde zudem gesalzen, aber nicht mit normalem Salz, sondern mit Harnstoff-Salz. Das hat das Ganze an manchen Tagen etwas schmierig gemacht. Die Krux war, dass man nach dem Fluor-Verbot wenig Erfahrungen hat - weil es die fluorfreien Rennen erst seit dieser Saison gibt. Man hat nicht so viele Daten aus vergangenen Jahren bei gleichen Wetterverhältnissen. Was ich so wahrgenommen habe, waren Schwierigkeiten, die richtige Handstruktur zu finden. Diese ist verantwortlich für den Abtransport von Wasser und Dreck. Auch kleinere Nationen haben da ein Setup gefunden, das funktioniert hat. Die Deutschen waren Tag und Nacht im Einsatz, aber ich hatte das Gefühl, dass andere Nationen das besser hinbekommen haben. Das soll aber kein Vorwurf sein.
SPORT1: Hätte man bei den anderen Nationen nicht etwas spionieren können?
Rösch: Nein, aber was ganz interessant war: Nach den Rennen werden unter den Nationen die Renn-Ski getestet. Der Deutsche testet die gelaufenen Renn-Ski der Norweger zum Beispiel und auch andersrum. Aber es wird nicht verraten, womit der Ski präpariert ist. So haben die Deutschen entdeckt, dass die Ski im Einzel von Sturla Holm Laegreid auch nicht gut waren. Also die Norweger hatten in manchen Rennen auch nicht das Top-Material. Aber die Deutschen haben nicht die Zauberformel gefunden, die es gebraucht hätte. Schade, dass es gerade zur WM war. Man kennt es aus der Formel 1 oder der MotoGP – man schraubt rechts und links – aber das Setup stimmt nicht. Zudem gibt es flüssiges Wachs, hartes Wachs, Pulver und Spray. Dann gibt es eine, drei oder fünf Lagen, dann kann gebürstet oder gekorkt werden. Bei den Handstrukturen gibt es 30 Varianten mit verschiedenen Stärken – von der Mitte bis hinten, von vorn bis hinten. Hochgerechnet kommt man auf 10.000 verschiedene Möglichkeiten.
SPORT1: Müsste man das nicht reglementieren und reduzieren?
Rösch: Das Einfachste wäre ein Einheitswachs. Aber das wird nie passieren und würde vielleicht auch die Spannung nehmen.
SPORT1: Aber dann würde der beste Athlet gewinnen und nicht der mit den besten Ski …
Rösch: Aber die Verhältnisse, gepaart mit dem Fluorverbot, haben es sehr extrem gemacht. Bei den Jugendlichen und Junioren in Deutschland gibt es Einheitswachs. Die müssen einen Tag vorher die Ski abgeben und dann bekommt jeder dasselbe Wachs drauf. Aber auch da gibt es dann Unterschiede durch die verschiedenen Skihersteller und Schliffe.
„Du kommst in eine Abwärtsspirale“
SPORT1: Sportdirektor Felix Bitterling hat bilanziert: Die Frauen waren gut, bei den Männern lief mehr schief als durch das Material erklärbar, er monierte auch die Einstellung, dass man sich mental besser auf die Situation hätte einstellen müssen. Teilen Sie diese Auffassung?
Rösch: Ich will gar nicht sagen, dass es schlecht war, aber es war halt im Vergleich zu anderen vielleicht nicht optimal. Das passiert in einem Rennen, dann im zweiten... Vielleicht waren die Ski gar nicht so schlecht, aber irgendwann kommt der Kopf und sagt: „Auf zehn Kilometern läuft der Ski an einer Stelle schlecht und du denkst, der Ski ist Mist.“ Es ist ein Kreislauf. Erst hat man kein Top-Material, dann kommt der Kopf hinzu, dann teilweise eine schlechte Leistung am Schießstand. Das summiert sich und du kommst in eine Abwärtsspirale.
SPORT1: Was ist denn der Unterschied zu den Norwegern? Was haben die, was wir nicht haben?
Rösch: Die Norweger haben eine kompakte Mannschaft. Also selbst die aus der zweiten Liga sind konkurrenzfähig. Bei den Laufrückständen bei der WM im Vergleich zu den Weltcup-Rennen bewegen wir uns im Rahmen. Allerdings setzten sich da die Französinnen extrem ab, da geht die Schere extrem auf. Im Sprintrennen der Männer hatten die Deutschen von Beginn an keinen Zugriff und daher keine Chance auf eine Medaille.
Grotian braucht Zeit
SPORT1: Wenn wir in die Zukunft schauen - gibt es so schnell kein Gold mehr? Laufen die anderen Nationen davon?
Rösch: Nein, das würde ich nicht sagen. Wenn man den Weltcup-Verlauf anguckt diese Saison, hat man sich zu Recht auch Hoffnungen auf mehr Medaillen gemacht. Am Ende waren es drei Medaillen, die bekommt man ja auch nicht geschenkt. Deutschland hat zwar weniger Medaillen geholt, aber früher war es fast immer eine Person, die abgeräumt hat. Das war Dahlmeier, das war Neuner. Das fehlt jetzt natürlich.
SPORT1: Ist Selina Grotian die Hoffnungsträgerin?
Rösch: Die Hoffnung hat jeder und sie ist ein riesiges Talent. Aber sie ist 19. Sie war bei ihrem WM-Start jetzt ein halbes Jahr älter als Dahlmeier bei ihrem WM-Debüt 2013. Gewisse Parallelen sind da, aber sie muss sich entwickeln. Sie hat die WM fantastisch angenommen und fährt mit einer Bronzemedaille nach Hause.
SPORT1: Wie viel Jahre müssen wir ihr noch geben?
Rösch: Sie ist jetzt im Weltcup erst mal angekommen. Mit 19 im ersten Jahr hat sie Punkte geholt und hat das alles kennengelernt – und eine WM-Medaille unverhofft als Ersatzfrau geholt. Nächstes Jahr haben wir in Lenzerheide die WM, dann die Olympischen Spiele und danach ist sie ja erst 21 und nicht mehr Juniorin. So viel Zeit sollte man ihr geben.
SPORT1: Hat Sie das Einzel-Silber von Janina Hettich-Walz überrascht oder haben Sie dieses Potenzial schon vorher in ihr gesehen?
Rösch: Dass ausgerechnet sie die erste Medaille holt, ist schon ein Stück weit überraschend, aber es hat sich auch angedeutet. Sie war zweimal ganz nah dran am Podest, aber nun konnte das Timing nicht besser sein.
SPORT1: Arnd Peiffer und Erik Lesser hatten zwischenzeitlich die Einstellung von Benedikt Doll kritisiert, Peiffer wollte ihn gar „schütteln“, nachdem er die schlechten Ergebnisse der ersten Rennen ihm zu gelassen hingenommen hatte. Hatten Sie dasselbe Gefühl – oder bleibt unterm Strich am Ende: Er hat die Medaille geholt, er hat alles richtig gemacht?
Rösch: Eine Medaille entschärft Kritik, das ist Fakt. Aber die Kritik war nach dem Sprint und der Verfolgung. Die Aussage von Doll, dass die vier Fehler akzeptabel seien, fand ich auch nicht cool. Ich hätte mir mehr Angriffslustigkeit gewünscht. Er hat sich so ein bisschen ergeben. Aber so ist eben Benedikt, er ist für die großen Momente geschaffen. Er hat eine Olympia-Medaille, eine WM-Goldmedaille und er ist einer der wenigen, die immer für eine Medaille gut sind. Und das hat er dieses Mal geschafft, das muss man ihm zugutehalten.
SPORT1: Was ist Ihr Gefühl: Sollte Benedikt Doll jetzt aufhören oder kann und sollte er dem Team immer noch wertvolle Dienste leisten?
Rösch: Von mir aus kann er noch 20 Jahre weitermachen. Aber mein Bauchgefühl sagt mir, dass es seine letzte WM war.
„Da ist die Hose schon unten“
SPORT1: Vanessa Voigt hat während der WM Social-Media-Anfeindungen publik gemacht und dass sie das auch während der WM beschäftigt hätte. Ole Einar Björndalen hat kein Mitgefühl gezeigt und geraten, das auszublenden und das Handy wegzupacken, alles andere wäre amateurhaft. Hat er Recht oder ist es gut, dass Voigt offen damit umgeht? Was haben Sie für Erfahrungen mit dem Thema?
Rösch: Also ich finde es klasse von Vanessa, dass sie das auch nach außen trägt. Damit auch die Leute da draußen mal sehen, womit die Sportler und Sportlerinnen konfrontiert werden. Teilweise ist das unter der Gürtellinie. Da ist die Hose schon unten, tiefer geht es gar nicht. Und das ist halt die letzten Jahre immer mehr geworden. Ich kenn es selbst, ich habe auch Instagram und ich gucke ich mir wirklich viele Kommentare an. Du musst halt die Coolness bewahren. Wer da so einen Spruch loslässt, der ist noch nie Ski gefahren, hat noch nie Biathlon gemacht, ist allein oder traurig oder hat eine schlechte Phase. Das musst du ignorieren können. Aber das kann auch nicht jeder. Björndalen hat natürlich Recht, wenn er sagt „so wenig Social Media wie möglich“. Letztlich muss jeder Sportler wissen, was er tut, aber ich würde es nicht amateurhaft nennen. Das ist etwas sehr spöttisch. Aber das ist vielleicht ein Lerneffekt für die Zukunft, dass man sich auf die wesentlichen Sachen konzentriert. Man kann ja auf Social Media aktiv sein, sollte sich aber die Kommentare nicht lesen und sich die dummen Kommentare nicht zu Herzen nehmen.