Nicht Johannes Thingnes Bö. Nicht Sturla Holm Laegreid. Nicht Sebastian Samuelsson. Sondern Philipp Nawrath ist derjenige, der das begehrte Gelbe Trikot aus der Tasche holen wird, wenn am Freitag im österreichischen Hochfilzen der zweite Weltcup des Winters beginnt. Der aufstrebende Deutsche ist die Überraschung der noch jungen Biathlonsaison - und urplötzlich sogar die Nummer eins.
Plötzlich Nummer 1 der Welt
Weil Nawrath am vergangenen Wochenende sensationell das Sprintrennen in Östersund gewann und dazu starker Zweiter in der Verfolgung wurde, sicherte er sich die Führung im Gesamtweltcup. Einen Punkt liegt der 30-Jährige vor dem Schweden Samuelsson. „Es ist Wahnsinn. Man hat schon so viele Rennen hinter sich und dann passiert sowas. Ich bin unglaublich dankbar für alle, die mir auf diesem Weg geholfen haben“, sagte Nawrath der Deutschen Presse-Agentur und scherzte: „Vielleicht musste erst die 3 beim Alter vorn stehen.“
Dabei war seine Erfolgsformel, die ihn an die Spitze brachte, im Prinzip ganz simpel: Es brauchte Kraft. Und zwar eine ganze Menge. Konnten die Athleten früher leichter über den Schnee gleiten, ist das mit dem neu eingeführten, fluorfreien Skiwachs deutlich schwieriger. Wie der fünfmalige Olympiasieger Bö schilderte, müsse jetzt mehr Power im Oberkörper aufgewendet werden, um voranzukommen. Die hat Nawrath - mit 1,82 Meter Körpergröße fünf Zentimeter kleiner, aber mit rund 80 Kilo ähnlich schwer wie Bö.
Von Deutschlands Nummer 6 zur Nummer 1 der Welt
Nawraths aktuelles Hoch ist ein steiler Aufstieg im Vergleich zum vergangenen Winter, den er nur auf Platz 28 im Weltcup beendete - und damit als deutsche Nummer 6 hinter Benedikt Doll, Roman Rees, Justus Strelow, David Zobel und Johannes Kühn.
Dem seit 2017 im Weltcup startenden Nawrath wurde zwar schon länger ein immenses Potenzial bescheinigt, aber die „PS auf die Straße zu bringen“, wie es DSV-Sportdirektor Felix Bitterling erklärte, schaffte er viel zu selten. Tatsächlich fuhr der Allgäuer in Östersund seine allerersten Podestplätze ein. Vor allem das Stehendschießen war lange seine große Schwäche, die ihm regelmäßig bessere Resultate verbaute.
Nawrath: Die tragische Figur von Peking
Besonders ungern dürfte sich Nawrath an ein Erlebnis bei den Olympischen Spielen 2022 in Peking erinnern. Da kämpfte er als Schlussläufer der deutschen Staffel gar um Gold, hatte es im direkten Duell mit Vetle Sjastad Christiansen, Quentin Fillon Maillet und Eduard Latypov in der eigenen Hand.
Doch Nawrath ließ die große Chance bei widrigen Bedingungen liegen und musste in die Strafrunde abbiegen. Statt Edelmetall gab es nur den vierten Platz, die wohl mit Abstand undankbarste Position bei solchen Großereignissen. „Es tut mir so leid“, sagte Nawrath, der beim finalen Schießen zur tragischen Figur wurde, damals seinem Teamkollegen Erik Lesser.
„Er hätte ein Superstar werden können, wenn er heute die Goldmedaille abgeräumt hätte“, meinte Lesser wiederum, inzwischen TV-Experte bei der ARD. Von dem schmerzhaften Tiefschlag hat sich Nawrath aber offensichtlich gut erholt, wie auch von einer weiteren Widrigkeit, die ihn in diesem Jahr ereilt hatte.
Im Sommer kämpfte Nawrath mit Verletzungssorgen
Als das deutsche Team im Mai die lange Vorbereitung aufnahm, brach sich das Kraftpaket bei einem Fußballspiel den Mittelfuß und zog sich einen Bänderriss zu. Aus den unzähligen geplanten Stunden auf Skirollern wurde nichts. Die bittere Realität lautete: Sechs Wochen Reha und Krücken.
Doch der Deutsche schuftete dadurch nicht weniger. Im Gegenteil: Nawrath baute noch mehr Muskelmasse auf, nutzte als Alternative ein Rudergerät und eine Armzugmaschine, absolvierte eine schweißtreibende Einheit nach der anderen - mit einem doppelt positiven Effekt. Der Körper lässt sich beim Schießen mit mehr Kraft besser stabilisieren. Und auf der Loipe kann durch einen stärkeren Stockabdruck mehr Schwung nach vorne generiert werden. Jetzt scheinen sich all die harten Stunden im Kraftraum auszuzahlen.
Nawrath holt sich Tipps von Biathlon-Ikone Greis ab
Dass es in Hochfilzen eine enorm schwere Aufgabe wird, das Gelbe Trikot zu verteidigen, weiß Nawrath. „Ich möchte aber darum kämpfen“, betonte er mit dem neu gewonnenen Selbstbewusstsein. Tipps holte sich der Mann mit dem Spitznamen „Phil the Power“ auch bei Michael Greis ab. Wie Nawrath ist die Biathlon-Legende in Füssen geboren und Mitglied im Skiklub Nesselwang.
Als Nawrath den inzwischen 47 Jahre alten Greis bei den Olympischen Spielen 2002 im Fernsehen sah, wollte er auch Biathlet werden, ließ sich inspirieren. „Man kann schon sagen, dass ich seinetwegen angefangen habe. Heute haben wir ständig Kontakt“, meinte Nawrath, der nach seinem ersten Weltcupsieg auch eine Gratulation von Greis erhielt.