In allzu optimistischen Vorhersagen liegt ja durchaus immer auch die Gefahr des Scheiterns. Das weiß natürlich auch Andreas Birnbacher.
Eine wie Neuner
„Ich weiß, wie schnell es im Leistungssport gehen kann“, sagte der Bundestrainer der deutschen Biathlon-Juniorinnen dazu deshalb unlängst in der Heidenheimer Zeitung.
Genauso weiß Birnbacher, dass aus seinem Sport mit behutsamem Aufbau aber möglicherweise trotzdem schon bald ein weiteres Ausnahmetalent den nächsten Schritt in Richtung Weltspitze schaffen könnte.
Schließlich scheint Selina Grotian dafür das nötige Rüstzeug mitzubringen. Vielleicht sogar bereits ein bisschen mehr als das.
Selina Grotian: Deutschlands neues Biathlon-Wunderkind?
Mit Vergleichen zu der jungen Garmisch-Partenkirchenerin, von manchem Medium und einigen Experten bereits als Deutschlands neues Biathlon-Wunderkind tituliert, wird jedenfalls auch nicht durch diejenigen gegeizt, die ganz dicht dran sind und die Situation offenbar am besten einzuschätzen vermögen.
„Sie erinnert mich vom Typ her mehr an Magdalena“, sagt allen voran Kristian Mehringer und meinte mit dieser Aussage im Münchner Merkur die frühere Doppel-Olympiasiegerin Magdalena Neuner. „Laura (Dahlmeier, Anm. d. Red.) ist ein anderer Typ. Aber beide sind starke Charaktere.“
Mehringer ist Cheftrainer der Biathlon-Damen beim Deutschen Ski-Verband (DSV) - und damit quasi derjenige, in dessen Obhut sich Grotian demnächst begeben könnte.
„Selina ist am Schießstand schon jetzt stabiler als es Magdalena in diesem Alter war“, fügte der 41-Jährige an.
Laura Dahlmeier: „Nachwuchs nicht ganz so schlecht“
Allzu lang dürfte es - Grotians gegenwärtiges Entwicklungstempo vorausgesetzt - demnach nicht mehr dauern, bis die 18-Jährige vom SC Mittenwald dort als Skijägerin in Aktion tritt, wo sie auch die Veteraninnen bereits wähnen: Auf Augenhöhe für den Wettstreit mit den ganz Großen. (SERVICE: Biathlon-Weltcupstände)
Besagte Dahlmeier etwa empfindet das so. Die ehemalige Weltklasse-Sportlerin sieht das deutsche Biathlon-Team trotz des ernüchternden Abschneidens bei der gerade erst zu Ende gegangenen WM in Oberhof „ganz gut aufgestellt“, wie sie dem Sport-Informations-Dienst sagte „Man hat bei der WM gesehen, dass die jüngeren Damen grad den Anschluss zur Weltspitze schaffen. Es ist im Nachwuchs nicht ganz so schlecht, da kommt schon einiges nach.“
Insbesondere Grotian. Nicht nur, dass das Wintersport-Juwel vor wenigen Wochen von der EM in Lenzerheide gleich den vollen Medaillensatz mit nach Hause nahm. Bei den Damen wohlgemerkt.
Die Juniorin, die mit ihrem älteren Bruder Tim (gewann 2018/2019 die Gesamtwertung im IBU Junior Cup) im selben Haus lebt, katapultierte sich damit auch in das Kandidatinnen-Feld für das Weltcup-Finale in Oslo (Norwegen) vom 16. bis 19. März. Folgt Grotian auf lange Sicht denn gar Spitzenkräften wie Weltmeisterin Denise Herrmann-Wick?
Grotians Heimcoach Bernhard Kröll tritt vorsorglich schon mal auf die Euphoriebremse, meinte beim Münchner Merkur aber auch: „Man darf eine so junge Athletin nicht überfordern, gleichzeitig aber auch nicht unterfordern.“
Das junge Alter jedenfalls sei dabei eher zu vernachlässigen, vielmehr zählten Leistungsvermögen und mentale Stärke. „Sie macht von ihrer Persönlichkeit einen sehr stabilen Eindruck“, sagte Kröll deshalb.
Druck? Grotian ganz entspannt
Und was sagt eigentlich Grotian selbst, die als Jugend-Weltmeisterin von 2022 die Juniorinnen-Klasse nun quasi übersprungen hat und stattdessen im IBU-Cup mit Top-Leistungen glänzt?
„Ich sehe das nicht als Druck an, sondern ziehe das Positive für mich heraus. Ich will einfach locker und entspannt weiter mein Ding machen“, so die Teenagerin, der Mehringer eine gesunde Portion Frechheit und Selbstbewusstsein bescheinigt, gerade in der finalen Rennphase: „Diese Fähigkeit, in der letzten Runde die Schnellste sein zu können, ist schwierig anzutrainieren. Das muss ein Stück weit auch angeboren sein.“
Wie auch das Kraft-Schöpfen aus für ihr Alter eher ungewohnt entschleunigten Aktivitäten: „Ich gehe oft mit meinem Hund Nika spazieren und fotografiere gern“, sagte sie bei Biathlonworld.com.
Und ergänzte: „Ich verbringe viel Zeit in der Küche, koche oder backe für mich und meine Familie. Im Moment ist mein Lieblingsessen Blumenkohl mit Reis und Bananenbrot.“
Sportlich dagegen soll die Konkurrenz mehr denn je abgekocht werden.
„Auf lange Sicht möchte ich vor allem am Schießstand stabiler werden, Fehler minimieren und auch auf der Strecke mit den weltbesten Athleten mithalten können“, wird Grotian, die auf ihrem Instagram-Account vorwiegend Wettkampf-Fotos postet, auf der Red-Bull-Athletenseite zitiert.
Was sie im besten Fall zu den Olympischen Spielen bringen soll, gibt man sich an gleicher Stelle vollmundig.
Schicksalsschlag prägt Grotian
Und wenn es am Ende doch nichts wird aus der erhofften Karriere? Dann dürfte Grotian trotzdem weiterhin unbeirrt durchs Leben gehen, in dem sie bereits manchen Schicksalsschlag zu verdauen hatte.
Ihr Bruder Fynn, das mittlere Geschwisterkind, musste einst im Alter von 12 Jahren infolge einer angeborenen Erkrankung wiederbelebt werden - mit gravierenden Folgen für das Leben der gesamten Familie.
„Die Hälfte seines Kleinhirns musste entfernt werden. Er musste alles neu lernen: sprechen, gehen und so weiter. Er gab niemals auf und kämpfte sich ins Leben zurück“, erinnerte sich Grotian bei Biathlonworld.com. „Seitdem sehen wir die Dinge aus einem anderen Blickwinkel.“