Wer Felix Neureuther über den Fortgang seiner Karriere verfolgt hat, dem wurde klar: Der Garmisch-Partenkirchener feierte zahlreiche Erfolge - doch, um den erfolgreichsten deutschen Skirennläufer der 2010er-Jahre wirklich aus dem Sattel zu heben, bedurfte es einigem.
“Ein Wahnsinniger“ mit Herz
Was während der ARD-Übertragung am Samstag bei der zweiten Hahnenkamm-Abfahrt des Wochenendes in Kitzbühel aus dem Mund des 39-jährigen Experten schallte – die Betonung dabei auf der schier ekstatischen Tonlage – ließ Großes erahnen: „Sarrazin, gratuliere. Du bist ein Wahnsinniger! Sensationell, unfassbar. Was ist mit diesem Typen los? Der ist so geil. Ich liebe ihn. Ein neuer Superstar ist geboren.“
Der neue Superstar hört auf den vollen Namen Cyprien Sarrazin. Ein 29-Jähriger aus dem Süden Frankreichs.
Doch nicht nur als Superstar könnte man den Überraschungs-Doppelsieger bezeichnen, auch als Spätzünder, als Lebemann, als „Verrückten, natürlich im positiven Sinne“, wie sich Neureuther und Kommentator Bernd Schmelzer einig waren.
Doch wer ist der Mann, der im Abfahrts-Weltcup nur noch sechs Punkte hinter dem Überfahrer aus der Schweiz, Marco Odermatt, liegt – obwohl er bis zum vorletzten Sommer nicht einmal ein organisiertes Abfahrts-Training absolviert hatte?
Ski Alpin: Sarrazin-Vergleich mit Tennis-Legende Roger Federer
Oftmals im heutigen Spitzensport werden Talente in Leistungszentren herangezogen, Sarrazin fuhr bis zu seinem 15. Lebensjahr nicht einmal im Ski-Club mit, sondern eher Freeski und Freestyle mit seinen Eltern. Doch schon bald änderte er seine Meinung, auch wenn er erst im Alter von 25 Jahren sein Weltcup-Debüt bei einer alpinen Kombination feierte.
Die Erfolge bis zur laufenden Saison hielten sich jedoch in Grenzen: ein sensationeller Parallel-Riesenslalom-Sieg 2016, dazu vereinzelte überraschende Podestplätze. In Retrospektive aus einem Grund: Die technischen Disziplinen lagen dem Franzosen nicht so.
In einem Trainingslager 2022 im südamerikanischen Chile absolvierte Sarrazin erstmals ein Abfahrts-Training, im zweiten Lauf war er der national Schnellste.
So sollte der steile Weg bergauf respektive der schnelle Weg bergab beginnen: Im Dezember der erste Abfahrts-Sieg im Weltcup in Bormio, den sein Teamdirektor Frederic Perrin mit einem sonderbaren Tennis-Ereignis verglich: „Für mich war das dieselbe Jahrhundertleistung, wie wenn Roger Federer an einem Grand-Slam-Turnier Rafael Nadal mit 6:0, 6:0, 6:0 bezwungen hätte.“
Dazu Mitte Januar der Super-G-Sieg auf der ruhmreichen Strecke in Wengen, nun gar der Doppel-Erfolg auf der legendären Streif. „Eine der besten Fahrten, die ich jemals in Kitzbühel gesehen habe“, huldigte Neureuther den Zweiten des Gesamtweltcups hinter Odermatt.
Neureuther-Lob: „Hupft der da rein, Herrschaftszeiten“
Kein Wunder, denn was Sarrazin dort mit einem Mix aus Feingefühl und „Harakiri“-Aktionen vollbrachte, war einzigartig. „Der springt fast in die Seidlalm“, schrie Schmelzer plötzlich, „hupft der da rein, Herrschaftszeiten“, schloss sich auch Neureuther in bayerischer Bewunderung an.
Dass Sarrazin dabei ein nachdenklicher, eher zurückhaltender Zeitgenosse ist, der zwar den Adrenalinkick bei Sommersportarten liebt, und doch psychologische Hilfe ob einer unglücklichen Liebe in Anspruch nehmen muss, scheint dabei in der Peripherie zu verschwinden.
Dass er einem Bericht der französischen Zeitung Le Dauphine allerdings nach seinen jüngsten Erfolgen besagte Dame wiedertraf, und sich bei ihr bedankte, da sie der Grund gewesen sei, seine mentalen Problemen wie mangelnde Sicherheit (eminent für die Abfahrt) anzugehen, rückt den Punkt wieder ins Zentrum.
Dort sollte an diesem Wochenende aber nur einer stehen: Sarrazin selbst. Denn der Franzose schnallte sich unmittelbar nach der Zieleinfahrt die Skier ab, kletterte auf die aufblasbaren Werbebanden und ließ sich mit ausgebreiteten Armen von den rund 45.000 Zuschauern in Kitzbühel feiern.
Er habe bereits am Vorabend über die Siegerpose nachgedacht, ließ er im Nachgang das ARD-Publikum wissen. Sein Geheimnis des Erfolgs?
„Ich bin einfach mit meinem Herz gefahren“, sagte Sarrazin beinahe demütig: „Natürlich auch mit dem Kopf, aber vor allem mit vollem Herzen.“