Die NFL kommt zum vierten Mal nach Deutschland. Die New York Giants und die Carolina Panthers treten am Sonntag (15.30 Uhr) in der Allianz Arena von München gegeneinander an. Der Deutsche Markus Kuhn kennt die Giants besonders gut. Der frühere Defensive Tackle spielte von 2012 bis 2015 für die Giants, war nach seinem Karriereende auf der Geschäftsstelle dieser Franchise tätig, lebt noch heute in New York und arbeitet als TV-Experte.
„Deutschland hat riesigen Stellenwert“
Im exklusiven SPORT1-Interview spricht der 38-Jährige über die Situation der beiden Teams, gibt Einblicke in das Innenleben eines NFL-Teams, verrät außerdem, warum es auf absehbare Zeit wohl keinen deutschen Quarterback in der NFL geben wird und welches Team sein Geheimfavorit auf den Super Bowl ist.
SPORT1: Herr Kuhn, die New York Giants und die Carolina Panthers haben nach neun Spielen jeweils erst zwei Siege errungen. Treffen die zwei größten Krisen-Teams der NFL in Deutschland aufeinander?
Kuhn: Es gibt einige Mannschaften, die derzeit am unteren Ende der NFL spielen. Bei den New York Jets, den Las Vegas Raiders, den Tennessee Titans oder den Jacksonville Jaguars läuft es ebenfalls nicht gut. Aber natürlich sind auch die Giants und die Panthers zwei Teams, die mehr Gas geben müssten. Die Entwicklung bei den Panthers ist besonders undurchsichtig. Aber auch die Giants haben ihre Probleme.
SPORT1: Bevor wir über diese Probleme sprechen, erst einmal allgemein gefragt: Warum sollte man sich dennoch auf dieses Spiel freuen?
Kuhn: Wann hat man schon einmal die Möglichkeit, ein NFL-Spiel in Deutschland zu sehen - ob nun bei RTL, beim Public Viewing oder im Idealfall sogar im Stadion? Es ist auch etwas völlig anderes, als würde man sich die Fußball-Bundesliga anschauen und der Tabellen-16. trifft auf den Tabellen-17. Jedes NFL-Team ist verdammt gut. Aufgrund des Salary Caps (Gehaltsobergrenze für jedes Team, Anm.d.Red.) sind die Mannschaften vom Talent her in der NFL näher beieinander. Beide Teams haben Top-Athleten in der Mannschaft.
SPORT1: Als Sie 2012 von den Giants gepickt wurden, waren diese amtierender Super-Bowl-Champion. In den folgenden zwölf Spielzeiten haben die Giants zehnmal die Playoffs verpasst und kamen nicht mehr über die 2. Playoff-Runde hinaus. Wie ist die sportliche Entwicklung der Giants zu erklären?
Kuhn: Zunächst einmal sind die Giants das einzige Team, das in den letzten vier Jahrzehnten jeweils einen Super Bowl gewonnen hat. Davon können andere Mannschaften nur träumen. Die Giants hatten früher mit Eli Manning einen super Quarterback und mit Tom Coughlin einen überragenden Head Coach. Sie gewannen zusammen zweimal den Super Bowl. Das war die Mannschaft, zu der ich damals gestoßen bin. Doch diese Zeit ist dann geendet. Und es ist sehr schwierig, in der NFL ein gutes Team aufzustellen.
SPORT1: Quarterback Daniel Jones wird in der Öffentlichkeit kritisch gesehen, seitdem die Giants ihn beim Draft 2019 überraschend bereits an Position 6 pickten. Dennoch bekam er 2023 einen Mega-Vertrag über vier Jahre und rund 160 Millionen Euro. Wie schätzen sie ihn ein?
Kuhn: Es ist grundsätzlich schwierig, einen Quarterback vor dem Draft zu bewerten. Natürlich sieht man im College-Football, was für ein Talent die Leute haben. Aber es gibt viele Top-Quarterbacks in der NFL, die spät gepickt wurden und dann eine große Karriere hingelegt haben. Auf der anderen Seite gibt es viele Nummer-1-Picks, die in der NFL ihre Schwierigkeiten haben. Das sehen wir auch bei Bryce Young, dem Quarterback der Carolina Panthers. Bei Daniel Jones kommt hinzu, dass es bei den Giants in den letzten Jahren viele Umbrüche gab. Mit Saquon Barkley gaben die Giants seine beste Waffe in der Offense ab. Das hat dem Team sicherlich nicht geholfen. Auch die Offensive Line ist nicht die stärkste. Es ist nicht leicht, in New York Quarterback zu sein.
SPORT1: Aufgrund der großen Stadt, der vielen Medien und der hohen Anspruchshaltung?
Kuhn: Genau. New York ist die größte Medienstadt der USA. Spielst du gut, bist du der große Star. Gelingt dir das nicht, gehen sogar die eigenen Fans mit dir sehr kritisch und streng um. Selbst wenn du die Medien nicht verfolgst und die sozialen Medien meidest, bekommst du das trotzdem mit. Das macht es schwierig. Grundsätzlich stehen die Giants in New York nämlich sehr im Fokus. Es gibt zwar jeweils zwei Teams in der NFL, NBA, NHL und MLB. Doch die Giants sind New Yorks Team. In den Zeitungen findest du sie meistens auf Seite 1. Aber leider sind das meist keine guten Nachrichten (lacht).
SPORT1: Auch Sie haben bei den Giants einmal eine schwierige Phase miterlebt, als in der Saison 2014 sieben Spiele in Folge verloren wurde. Was macht das mit einer Mannschaft?
Kuhn: Es ist verdammt schwierig, sich in solch einer Phase immer wieder aufzuraffen. Es gibt Phasen, in denen man genauso arbeitet wie sonst und trotzdem immer verliert. Man darf nicht vergessen, dass Football eine sehr harte Sportart ist, die einfach wehtut. Wenn man gewinnt, lässt sich das damit rechtfertigen. Verliert man allerdings jede Woche, tut es noch mehr weh. Auch das Training macht keinen Spaß mehr. Man braucht ein Erfolgserlebnis. Bei uns endete die Negativserie durch einen Sieg gegen die Tennessee Titans. Das war witzigerweise auch das Spiel, bei dem ich meinen Touchdown hatte.
SPORT1: Mit dem Deutschen Jakob Johnson gibt es einen deutschen Spieler bei den New York Giants, der in dieser Saison zwischen dem aktiven Kader, dem Practice Squad und der Arbeitslosigkeit hin- und herpendelt. Wie verrückt ist diese Situation für ihn?
Kuhn: Das ist für die NFL nicht untypisch. Jakob weiß um seine Rolle bei den Giants Bescheid. Es ist ganz normal, dass er manchmal im 53-Mann-Kader steht und manchmal im Practice Squad. Wenn man aus dem 53-Mann-Kader gestrichen wird, muss dieser Vertrag erst einmal gekündigt werden, ehe man wieder in den Practice Squad gesteckt wird. Das wurde in den Medien häufig missverstanden, wenn lediglich vermeldet wird, dass Jakob entlassen wurde.
SPORT1: Unabhängig von seiner aktuellen Situation hat Johnson es geschafft, sich seit der Saison 2019 in der NFL zu halten. Was zeichnet ihn aus?
Kuhn: Es ist eine große Leistung, sich in dieser Liga zu behaupten. Woche für Woche muss man sich beweisen, weil andere Leute einem den Platz wegnehmen möchten. Bei Jakob kommt erschwerend hinzu, dass er auf der Position des Fullbacks spielt, die es bei vielen Teams überhaupt nicht gibt. Auf der anderen Seite aber ist Jakob ein sehr guter Special-Team-Spieler. Das bietet ihm die Möglichkeit, darüber auch in der Offense immer wieder Spielzeit zu bekommen. Zudem arbeitet er sehr hart und ist eine tolle Persönlichkeit. Für ein Team ist es immer gut, jemanden in der Kabine zu haben, der immer gut drauf ist und hart arbeitet.
SPORT1: Sprechen wir über den Gegner der Giants: Die Carolina Panthers durchleben die zweite Katastrophen-Saison in Folge - auch wenn sie am vergangenen Sonntag überraschend gegen die New Orleans Saints gewonnen haben. Was läuft dort insgesamt schief?
Kuhn: Die Panthers hatten mit Cam Newton einmal einen starken Quarterback und standen im Super Bowl. Aber seitdem tun sie sich schwer. Sie haben mit David Tepper (Hedgefonds-Manager, Anm.d.Red.) einen relativ neuen Besitzer, der sich in seinem Business sehr gut auskennt und daher viel Budget hatte, um sich diese Franchise zu kaufen. Aber das lässt sich nicht immer auf den Sport übertragen. Manchmal haben die Besitzer auch zu viel Einfluss darauf, was in einem Team passiert. Ich glaube, das macht die Situation für die Panthers nicht einfach.
SPORT1: Wie sehen Sie die Quarterback-Situation mit Bryce Young, dem Nummer-1-Pick von 2023, und dem erfahrenen Routinier Andy Dalton dahinter?
Kuhn: Bryce Young hat am College nicht allzu viel gespielt. Er braucht Spielpraxis, um besser zu werden. Die Panthers haben beim NFL Draft 2023 extra hochgetradet, um ihn als Nummer-1-Pick zu verpflichten. Das war eine große Investition. Daher finde ich, dass man ihm noch ein, zwei Jahre Zeit geben sollte. Manchmal hängt es auch davon ab, in was für ein Team ein junger Spieler kommt und ob das zusammenpasst. Es gab schon einige frühere Nummer-1-Picks, die bei ihrem ersten Team nicht richtig funktioniert haben, dann später bei einem anderen Team waren, weniger Druck hatten und plötzlich besser spielten. Baker Mayfield ist ein gutes Beispiel dafür.
SPORT1: Momentan ist Young wieder der Starting-Quarterback der Panthers, doch zwischenzeitlich bekam auch schon einmal Dalton den Vorzug …
Kuhn: … der natürlich sehr viel Erfahrung mitbringt und jede Defense mindestens zweimal gesehen hat, aber sicherlich nicht die Zukunft dieser Franchise ist.
SPORT1: Das Duell zwischen den Giants und Panthers wird nach 2022 und 2023 das vierte Saisonspiel auf deutschem Boden sein. Welchen Stellenwert hat Deutschland für die NFL?
Kuhn: Einen riesigen Stellenwert. Das haben wir letztes Jahr gesehen, als ein Spiel in Mexiko City ausgefallen ist und Deutschland dafür ein zweites Spiel bekam. Auch nächstes Jahr wird es wieder ein Spiel in Deutschland geben. Es wird bereits über weitere Austragungsorte nachgedacht. Und RTL hat dafür gesorgt, dass die NFL im deutschen Fernsehen noch präsenter ist. Das bekommt natürlich auch die NFL mit.
SPORT1: Was wären die nächsten Schritte für den American Football in Deutschland?
Kuhn: Einmal müssen wir uns um die sportliche Entwicklung kümmern. Wir müssen das Niveau weiter steigern, damit noch mehr Talente aus Deutschland die Möglichkeit haben, in den USA für ein College zu spielen und darüber in die NFL zu gelangen. Dadurch wächst der Sport. Das haben wir gesehen, als wir mit Sebastian Vollmer, Björn Werner, Kasim Edebali und mir mehrere Deutsche in der NFL hatten. Auf der anderen Seite gibt es auch noch Flag Football …
SPORT1: Also die Football-Variante ohne Tackling …
Kuhn: Auch da steckt viel Potenzial. Das müssen wir weiter fördern. Das ist ein toller Breitensport für Jungs und Mädchen in jedem Alter. Aber wir müssen das auch professionell angehen, damit wir bei Olympia 2028 eine gute Mannschaft zusammenstellen können, die in Los Angeles abliefern kann.
SPORT1: Können Sie sich in den nächsten fünf bis zehn Jahren einen deutschen Quarterback in der NFL vorstellen?
Kuhn: Ich halte es für unrealistisch, dass ein deutscher Quarterback so viel Qualität hat, dass er in die NFL gelangt. Auf vielen anderen Positionen im American Football ist es kein Problem, wenn du später anfängst. Wenn du ein guter Athlet bist, die richtige Schnelligkeit und Größe mitbringst, kann man dir Football beibringen. Das sehen viele Coaches und Scouts genauso. Bei einem Quarterback ist das anders. Du brauchst jahrelanges Training auf hohem Niveau, um dich weiterzuentwickeln. Du brauchst auch gute Mitspieler - zum Beispiel sehr schnelle Wide Receiver – um als Quarterback besser zu werden. In den USA gibt es tausende von Kindern, die ab dem jüngsten Alter alles tun, um vielleicht in die NFL zu kommen. Es ist verdammt schwer, das aus Deutschland hinzubekommen.
SPORT1: Können Sie sich ein festes NFL-Team in Europa vorstellen?
Kuhn: Wenn die NFL sich über die USA hinaus ausbreiten möchte, könnte ich mir eher eine ganze Conference (vier Teams, Anm.d.Red.) in Europa vorstellen. Über so etwas wird mehr und mehr gesprochen. Ich erinnere mich, dass ich vor einem Jahr mit Roger Goodell (NFL Commissioner) interviewte und er damals sagte, er könne sich keinen Super Bowl außerhalb der USA vorstellen. Jetzt hat er in London gesagt, dass er sich das doch vorstellen könnte. Das zeigt, wie schnell sich das wenden kann. Allerdings ist die NFL darauf ausgelegt, dass die Teams alle ungefähr gleich stark sind. Ob man wirklich die besten Spieler bekäme, wenn man ein NFL-Team in München, Frankfurt oder Berlin hätte, kann ich mir schwer vorstellen.
SPORT1: Letzte Frage: Wer sind ihrer Einschätzung nach die Super-Bowl-Favoriten?
Kuhn: Man kommt an den Kansas City Chiefs nicht vorbei, die auch in diesem Jahr wieder verdammt stark sind. Die Minnesota Vikings machen auch einen guten Job. Und wer mir wirklich gut gefällt, sind die Pittsburgh Steelers. Russell Wilson ist ein super Quarterback, der zuvor bei den Denver Broncos eine schwierige Ausgangssituation unter dem Head Coach Sean Payton hatte. Meiner Ansicht nach lag das allerdings eher am Trainer. Ich kenne Russell ziemlich gut. Wenn man mit ihm nicht klarkommt, ist man selber schuld. Er tickt vielleicht ein bisschen anders als andere Leute, aber niemand trainiert härter und gibt mehr für die Mannschaft als er. Das ist einfach beeindruckend. Daher schätzte ich Pittsburgh sehr stark ein.