Der spektakuläre und folgenreiche Rechtsstreit um die Behandlung afroamerikanischer Trainer in der NFL bekommt eine neue Ebene - und zusätzliche Brisanz durch einen jahrelang nicht größer beachteten Podcast-Auftritt.
Hochbrisantes Tondokument wühlt NFL auf
Steve Wilks und Ray Horton, zwei langjährige NFL-Coaches, haben sich der großen Diskriminierungsklage von Brian Flores gegen die Liga und mehrere Teams angeschlossen - in die nun auch die Tennessee Titans, die Arizona Cardinals und die Houston Texans unmittelbar verwickelt sind. (NEWS: Alle aktuellen Infos zur NFL)
Vorwürfe nun auch gegen Cardinals, Titans und Texans
Den Cardinals wird vorgeworfen, dem 2018 für eine Saison eingestellten und dann wieder entlassenen Wilks keine faire Chance gegeben zu haben. Die Anschuldigung gegen die Titans lautet, Horton vor der Saison 2014/15 zu einem statutenwidrigen „sham interview“ geladen zu haben, einem wertlosen Vorstellungsgespräch, obwohl die Entscheidung gegen ihn schon beschlossen gewesen sein soll. (DATEN: Ergebnisse und Spielplan der NFL)
Dies wäre ein Verstoß gegen die „Rooney Rule“, die Minderheitenvertretern einen Anspruch auf einen ergebnisoffenen Entscheidungsprozess bei offenen Trainerposten geben soll.
Bei den Texans geht es um die aktuelle Offseason und die Entscheidung gegen Flores - nach der Ankündigung von dessen Klage gegen die NFL. Die Texans sollen zu diesem Zeitpunkt nur noch zwischen Flores und Josh McCown geschwankt haben. Letztlich erweiterten sie den Kandidatenkreis um den afroamerikanischen Defensivkoordinator Lovie Smith, der den Job dann auch bekam.
Flores‘ Rechtsvertreter würdigen das ausdrücklich. Sie sehen aber das Übergehen von Flores - inzwischen als Linebackers-Coach von den Pittsburgh Steelers angeheuert - dennoch als „problematisch“ und vermuten Druck der NFL und/oder anderer Teams. (NFL-Transfers - die größten Trades und heißesten Gerüchte im TICKER)
Podcast von Ex-Titans-Coach stützt brisanten Vorwurf
Der Fall Horton/Titans ist in besonderem Maße spannend, denn die Klägerseite kann sich hier auf einen prominenten Kronzeugen stützen: Mike Mularkey, den weißen Trainer, der den Titans-Job am Ende bekommen hat.
In einem Podcast-Interview 2020, das seinerzeit nicht groß beachtet wurde, nun aber größere Wellen schlägt, stützt er die Darstellung Hortons in eindeutigen Worten.
„Die Eignerseite dort, Amy Adams Strunk und ihre Familie, kam zu mir und hat mir gesagt, dass ich den Job bekomme, bevor sie die Rooney Rule angewandt haben“, berichtete Mularkey in dem Auftritt bei Steelers Realm: „Ich saß da also und wusste, dass ich den Job bekommen würde, während sie ein Fake-Einstellungsverfahren durchgezogen haben.“
General Manager Jon Robinson hätte „selbst keine Ahnung gehabt, warum er noch das Gespräch mit mir führte“. Bei dieser Sache mitgemacht zu haben, sei etwas, „was ich bis heute bereue“.
„Ich denke, ihr habt die Wahrheit“
Der 60 Jahre alte Mularkey ist mittlerweile im Ruhestand, auf Nachfrage von ESPN ergänzt er nun seine damaligen Ausführungen nicht konkret - hält aber vielsagend fest: „Ich denke, ihr habt die Wahrheit und das, was ihr braucht.“ (SERVICE: NFL-Wissen - die wichtigsten Begriffe im Football)
Die Titans bestreiten die Vorwürfe in einer Mitteilung, der damalige Einstellungsprozess sei „offen und kompetitiv“ gewesen und hätte „allen NFL-Regeln entsprochen“. Irreguläre Festlegungen hätte es nie gegeben und sie seien auch nicht kommuniziert worden. „Das von Vorantreiben von Diversität und Inklusion an unserem Arbeitsplatz und in unserer Community“ seien dem Team überdies ein großes Anliegen - und so weiter.
Die von Mularkey persönlich beschuldigte Adams Strunk - Tochter des 2013 verstorbenen Franchise-Gründers Bud Adams - äußerte sich selbst nicht.
Schwarze Coaches in der NFL extrem unterrepräsentiert
Flores‘ Klage ist wegweisend, weil sie der bislang substanziellste Angriff auf ein systemisches Problem der NFL ist, das im Kern auch von der NFL-Führung nicht bestritten wird: Während Afroamerikaner einen Großteil der Spielerkader in der Liga ausmachen, sind sie in Trainer- und Manager-Jobs extrem unterrepräsentiert.
Die Flores-Klage hat dies in den Blickpunkt gerückt und auch US-Präsident Joe Biden zu einer öffentlichen Mahnung an die NFL veranlasst, die inzwischen neue Maßnahmen für mehr Chancengleichheit in die Wege geleitet hat.
Rooney Rule ändert nichts an einem Kernproblem
Die 2003 eingeführte „Rooney Rule“ sollte eigentlich schon längst Abhilfe geschafft haben, gilt jedoch als zu leicht zu umgehen und ändert nichts an einer tiefer liegenden Ursache. (SERVICE: NFL-Wissen - die wichtigsten Regeln im Football)
Der auf das Thema spezialisierte Sozialwissenschaftler John Singer monierte vor einiger Zeit unter anderem das „Alte-Jungs-Netzwerk“ der mächtigen Ligaeigentümer: „Es gibt ein informelles System, in dem sich wohlhabende Männer - größtenteils weiße wohlhabende Männer - gegenseitig aushelfen.“ Flores selbst verglich das System nicht zufällig mit einer „Plantage“ - und stellte damit einen Bezug zu der Ära der Sklaverei her.
Gerade der Fall der Titans lenkt dabei den Blick darauf, dass die Ursachen für das Diversity-Gefälle vielschichtiger sind als ein schlichter Weiß-gegen-Schwarz-Gegensatz: Die milliardenschwere Adams-Familie - reich geworden in der Öl- und Gasbranche - ist als Teil der Cherokee Nation selbst Mitglied einer Minderheit.