Es ist seit Jahrzehnten ein guter Brauch, bei US-Ligen vor Beginn einer jeden Saison ein Powerranking zu erstellen.
Die Unbesiegbaren
Experten analysieren in der Vorbereitung Stärken und Schwächen jedes Teams, ordnen ein, welche Mannschaften von welchen Transfers am meisten profitieren werden und sagen voraus, welcher Rookie von Beginn an eine wichtige Rolle spielen könnte.
Herauskommt eine Liste, auf der für jedes Team eine genaue Platzierung am Ende der regulären Saison zugeordnet wird. Vor der aktuellen NBA-Saison standen die Boston Celtics fast überall auf Platz eins.
Die Cleveland Cavaliers landeten bei den meisten Vorhersagen weit dahinter. Top 10, das schon. Aber nicht viel weiter vorn.
NBA: Cavaliers immer noch mit weißer Weste
Nun, nachdem die ersten Wochen der neuen Spielzeit ins Land gegangen sind, muss man festhalten: Die Cavaliers stehen weiter vorn, und zwar sehr viel weiter vorn.
In der Nacht auf Dienstag bezwang das Team aus Ohio auch die Chicago Bulls in deren United Center (119:113) und baute seine Startbilanz auf 12-0 aus. Kein anderes Team aus der NBA hat zum jetzigen Zeitpunkt noch eine so blütenweiße Bilanz aufzuweisen wie die Weinroten.
Zwölf Siege aus den ersten zwölf Spielen: Das ist selbst den in Cleveland verehrten Meister-Cavs der Saison 2015/16 um LeBron James nicht gelungen. Die Bilanz damals lautete 9:3.
In derselben Saison waren es die Golden State Warriors, die zu Beginn eine unfassbare Dominanz entwickelten und gleich die ersten 24 Spiele ausnahmslos gewannen. Am Ende stand mit 73 Siegen und nur neun Niederlagen die beste Bilanz, die je ein NBA-Team erreichte.
In den Finals mussten sich die Warriors dennoch den von James angeführten Cavaliers geschlagen geben.
Dass die jetzigen Cavs den Triumph von damals wiederholen können, kann aufgrund der noch sehr langen Saison derzeit selbstredend noch nicht seriös vorhergesagt werden. Die Art und Weise, mit der sie bislang die Liga beherrschen, ist dennoch bemerkenswert und vielversprechend.
Mitchell verrät das Erfolgsgeheimnis der Cavs
„Wir gewinnen sehr unterschiedlich. Wir haben Teams schon haushoch geschlagen. Wir haben schon nach Rückständen gewonnen. Wir haben schon enge Spiele gewonnen“, analysierte Superstar Donovan Mitchell den 12-0-Start seiner Cavs und schob nach: „Jeden Abend wird ein anderer Spieler zum Matchwinner.
Viel besser als der 28 Jahre alte Shooting Guard kann man die Stärke des Teams gar nicht beschreiben. Sie haben nicht die eine Waffe, mit der sie jeden Gegner erledigen können. Es ist gerade die ungeheure Vielseitigkeit, die die Cavaliers des aktuellen Jahrgangs so stark und für die anderen Teams so unberechenbar macht.
Natürlich lastet nach wie vor viel Verantwortung auf Mitchells Schultern. Doch der fünfmalige All-Star, der vor zwei Jahren von den Utah Jazz nach Cleveland kam, ist längst kein Alleinunterhalter mehr.
Im Gegenteil: Mitchell steht derzeit so selten wie nie in seiner Karriere – etwas mehr als 30 Minuten pro Spiel – auf dem Parkett. Seine Punktausbeute von 23,7 im Schnitt ist die niedrigste seit seiner Rookie-Saison vor sieben Jahren.
Das ist jedoch auf keinen Fall beunruhigend, sondern vielmehr Teil des Plans des neuen Head-Coaches Kenny Atkinson – und Mitchell, der Anführer des Teams zeigt, dass er bereits ist, dafür seine individuellen Ansprüche zurückzustellen.
Das kann Mitchell natürlich umso leichter wegstecken, je mehr er von dieser Maßnahme überzeugt ist. Der Erfolg gibt dem neuen Trainer recht.
Er kommt ja auch nicht von ungefähr. Denn Atkinson war seit 2021 Assistenztrainer von Steve Kerr bei den Warriors und übertrug praktisch das auf schnelle Ballbewegung basierende Konzept seines Ex-Teams auf seine neuen Spieler.
Atkinson macht Cavaliers Beine
Das Ergebnis: Die Cavs, die lange Zeit ihre Angriffe eher im Schneckentempo absolvierten, sind statistisch gesehen auf einmal das achtschnellste Angriffsteam der Liga.
Dabei kann es sich Atkinson sogar erlauben, die meiste Zeit mit zwei Big Men spielen zu lassen, die bislang nicht gerade für ihre überbordende Punktausbeute bekannt sind.
Doch er schaffte es, vor allem Evan Mobley immer häufiger auch ins Angriffsspiel zu integrieren. Die Folge: Der Punkteschnitt steigerte sich von 15,7 auf 18,1 Zähler pro Spiel. Center Jarret Allen konzentriert sich indes weiterhin auf die Verteidigung und konnte seine Defensiv-Werte leicht steigern.
Dass es derzeit so gut läuft für die Cavs, liegt nicht zuletzt an Darius Garland. Nachdem der Point Guard in der vergangenen Saison eine schwere Verletzung und den Tod seiner geliebten Großmutter verkraften musste, blüht er aktuell wieder richtig auf.
Für das schnelle Angriffsspiel der Cavs ist der kreative und treffsichere Spielmacher bestens geeignet. Für alle, die an Garlands Rückkehr gezweifelt hatten, hat Mitchell noch eine besondere Botschaft parat.
Mitchell über Garland-Abgesang: „Das macht mich wütend“
„Letztes Jahr bekam er einen Finger ins Auge, sein Kiefer wurde verdrahtet, in seiner Familie ist etwas passiert“, sagte er nach dem Sieg gegen die Bulls. „Im Jahr davor war er stark, aber wir vergessen so schnell. Das macht mich wütend. Das, was wir jetzt sehen, das ist Darius Garland.“
Auf dem Weg in Richtung Playoffs werden auch die Cavs noch das eine oder andere Spiel verlieren. Das wissen sie selbst.
Sie wissen aber auch: Der Einzug in die Finals und die Wiederholung des bislang einzigen Titels von 2016 ist mit diesem Team in dieser Saison alles andere als ein Hirngespinst.