Reiner Calmund saß gebannt vor dem Fernseher, das historische Ereignis ließ ihn nicht los.
Der filmreife DDR-Transferthriller
„Bis in die frühen Morgenstunden“ habe er zwischen dem 9. und 10. November 1989 alle Nachrichten zum Fall der Berliner Mauer und dem sich anbahnenden Ende der DDR aufgesogen, berichtete er später. Kurz darauf reiste er nach Berlin, um die Aufbruchstimmung aus nächster Nähe aufzusaugen. (NEWS: Alles zum Transfermarkt im SPORT1-Transferticker)
Die Manager-Legende hatte persönliche Verbindungen nach Ostdeutschland, die ihn bewegten - Calmunds Mutter kam aus Thüringen, wo er als Kind vor dem Mauerbau oft Urlaub gemacht hatte, Thüringer Kartoffelklöße zählen zu seinen Leibspeisen. Aber auch der berufliche Blick rückte nach und nach in den Vordergrund.
Der Untergang des Arbeiter- und Bauernstaats hatte bekanntlich nicht nur viele politische Umwälzungen, sondern auch viel wirtschaftliches Glücksrittertum zur Folge, auch im Fußball.
Schon kurz nach dem Mauerfall begann in der Bundesliga ein Wettrennen um die besten Köpfe und Beine des DDR-Fußballs. Und der gewiefte Macher von Bayer Leverkusen war vorn mit dabei - so weit vorn, dass ihn schließlich sogar der Kanzler zur Ordnung rief.
DDR-Länderspiel wurde zum Transfer-Umschlagplatz
Nachdem die erste Freude über die friedliche Revolution verklungen war, habe er schnell darüber nachgedacht, „wie Bayer vom Mauerfall profitieren kann“, bekannte Calmund später offen.
Dem damals 41-Jährigen, der immer dem Motto „Die Schnellen fressen die Langsamen“ anhing, war klar: Der Faktor Zeit spielt eine Hauptrolle. Und die Zeit drängte: Wenige Tage nach dem Mauerfall, am 15. November 1989, stand für die politisch dahinsiechende DDR das entscheidende WM-Qualifikationsspiel gegen Österreich in Wien an.
Calmund wusste: An diesem Tag würden die DDR-Asse von Agenten, Scouts und Klubgesandten belagert werden. Er wollte auch dort vertreten sein, um an die begehrten Kontakte zu den Leistungsträgern des Teams heranzukommen. Und Calmund hatte bald eine Idee, wen er auf die Wien-Mission schicken würde.
„Dr. Karnath“ trickste in Wien alle aus
Wolfgang Karnath hieß der kaum bekannte Mann mit einem nicht zu unterschätzenden Einfluss auf die Nachwendegeschichte des Fußballs. Offiziell war er Betreuer der Leverkusener A-Junioren und Chemielaborant beim Mutterkonzern Bayer.
Calmund schätzte ihn aber vor allem als „cleveres, abgewichstes Kerlchen“, wie er SPORT1 einmal sagte: „Den schmeißt du vorne aus dem Auto raus, und Sekunden später klettert er hinten wieder rein.“
Karnath bekam von Calmund eine Akkreditierung als Fotograf, besorgte sich auch einen Ausweis als Teamarzt, weil „Dr. Karnath“ abwechselnd mit sächsischem und österreichischen Akzent sprach, hielten ihn beide Delegationen für ein Mitglied der jeweils anderen und wunderten sich nicht weiter.
Letztlich endete die filmreife Geheimoperation des west-ostdeutsch-österreichischen Dreifachagenten auf der DDR-Bank von Nationaltrainer Eduard „Ede“ Geyer. Mit diebischer Freude erinnerte Karnath sich später: „Immer wenn einer aufsprang, bin ich einen Sitz näher an die Spieler gerutscht.“
Die Nummer 1 auf der Wunschliste war schnell eingesackt
Die DDR-Spieler - mit dem Kopf irgendwie nicht ganz bei der Sache - verloren das alles entscheidende Spiel mit 0:3 durch einen Dreierpack von Toni Polster und verpassten die WM in Italien, wo die BRD dank Andy Brehme den Titel holte.
Für Karnath begann danach der nächste Schritt der filmreifen Geheimoperation: Er fuhr dem Mannschaftsbus ins Teamhotel nach Lindabrunn hinterher, fädelte am Tag darauf ein Treffen mit Andreas Thom ein, der Nummer 1 auf Calmunds Liste. Im Teamflieger an den Zielort Berlin saß Doc Karnath am Ende natürlich auch.
Calmund besuchte Thom in dessen mutmaßlich noch von der Stasi abgehörten Plattenbauwohnung in Berlin, erzielte mündliche Einigkeit mit dem Star von Dynamo Berlin. Er wies dann per Telefon seine Sekretärin an, eine offizielle Anfrage an den DDR-Verband zu schicken - mit einem aus dem Keller geholten und entstaubten Telex-Fernschreibegerät, weil Faxe im Osten noch nicht der technische Standard waren.
Wenige Wochen später war der 2,5 Millionen D-Mark teure Deal perfekt.
Helmut Kohl intervenierte bei Leverkusens Mutterkonzern
Der Bayer-Manager wandte sich parallel dazu den Zielobjekten Nummer 2 und 3 zu: dem jungen Mittelfeld-Leader Matthias Sammer und Thoms Stürmerkollege Ulf Kirsten, beide Dynamo Dresden.
Mit beiden verabredete er ein Treffen in einem Nobelhotel am Chiemsee – und bekam von beiden positive Signale. Der spektakuläre Doppel-Deal wurde dann aber durchkreuzt, unter anderem von einem anderen prominenten Protagonisten des Wendeherbsts: Helmut Kohl.
Der Kanzler der Einheit wandte sich an die Konzernspitze von Bayer und legte ihr nahe, Calmund ins Gewissen zu reden: Es gebe kein gutes Bild ab, wenn ein einzelner Klub mit Connection zur Deutschland AG den halben Ostfußball leerkaufe.
Sammer wechselte dann doch nicht zu Bayer, sondern zum VfB Stuttgart – und wurde dort Schlüsselfigur des Stuttgarter Meister-Coups 1992 unter der Regie eines späteren Weggefährten Calmunds: dem kürzlich verstorbenen Trainer Christoph Daum.
Transfer-Krimi um Ulf Kirsten mit dem BVB
Bei Kirsten gab es derweil noch eine Volte im Transfer-Krimi: Als der „Schwatte“ dicht an einem Deal mit Borussia Dortmund war, pfiff Calmund doch auf Helmut Kohls Bedenken und schnappte Kirsten dem BVB für eine Transfersumme von 3,5 Millionen Mark noch weg.
Calmunds Kampf um Kirsten war Gold wert, wie sich zeigen sollte: Mit 182 Toren in 350 Bundesliga-Spielen wurde Kirsten zum erfolgreichsten Bundesliga-Stürmer der neunziger Jahre und zur Leverkusener Klub-Ikone.
„Kirsten war jede Mühe wert“, sagte Calmund später: „Trotz Ballack, Völler, Schuster, Zé Roberto oder Lucio - er war mein Jahrhunderttransfer.“