Von Florian Regelmann
So steht es um den Tennis-Nachwuchs
Wie werde ich vom Talent zum Star? Nervenzusammenbrüche des Grauens schaden nicht!
Laura Siegemund war mit ihrem Viertelfinal-Einzug aus Sicht des deutschen Damen-Tennis die positive Geschichte der French Open in Roland Garros. Insgesamt sieht die Situation aber düster aus - mit einem Silberstreifen am Horizont.
Was ist aus den Nachfolgerinnen der goldenen Generation um Angelique Kerber, Julia Görges, Sabine Lisicki und Andrea Petkovic geworden? Und was sind überhaupt die Schlüssel für eine Entwicklung vom Talent zum Star? Wir blicken auf die Nachwuchsförderung im deutschen Damentennis mit besonderem Fokus auf die Porsche Talente und Junior Teams des DTB.
Andrea Petkovic schildert persönliche Eindrücke
"Mir hat es gefallen, dass sie sofort ohne Respekt auf den Platz kam. Aber als ich dagegengehalten habe, da habe ich gemerkt, da war sie beeindruckt. Da hat sie große Augen bekommen, das war total süß. Aber da sind die Schläge wirklich schon mit der Top-Elite vergleichbar."
Andrea Petkovic sitzt am DTB-Bundesstützpunkt in Oberhaching mit Damen-Tennischefin Barbara Rittner, Bundestrainerin Jasmin Wöhr und Proficoach Benjamin Ebrahimzadeh zusammen. Sie hat an drei Tagen mit drei von Deutschlands größten Nachwuchshoffnungen trainiert und schildert ihre ganz persönlichen Eindrücke.
Nastasja Schunk? Von der Härte ihrer Schläge könnte sie schon mit den Großen mithalten. Bei Mara Guth lobt sie ihre Steigerung in der Intensität, bei Julia Middendorf zeigt sie sich beeindruckt, wie erwachsen die 16-Jährige auf sie wirkte. "Von weitem gegenüber dachte ich, ich spiele schon mit einer WTA-Spielerin."
Während Schunk (Nr. 90 in der Juniorinnen-Weltrangliste) und Middendorf (Nr. 94) es aufgrund ihrer Ranglistenposition nicht in die Nachwuchs-Konkurrenz der French Open schafften, war Guth (Nr. 56) mit dabei, schied allerdings in Runde zwei aus. Auch für Angelina Wirges (Nr. 79) und Eva Lys (Nr. 66) war früh Endstation, sodass nicht überraschend Alexandra Vecic die deutschen Fahnen hochhalten musste.
Alexandra Vecic: Starke Grand Slams machen Mut
Vecic, die zu Beginn des Jahres bei den Juniorinnen das Halbfinale der Australian Open erreichte und zum ersten Mal so richtig aufhorchen ließ, steht im ITF Juniors Ranking klar am höchsten (8). Ihre Viertelfinal-Teilnahme in Paris war ein starkes Ergebnis, bedenkt man, dass sich die 18-Jährige eigentlich auf schnelleren Belägen wohler fühlt und dass sie in den vergangenen Monaten eine fünfwöchige verletzungsbedingte Zwangspause zu überstehen hatte.
Wohin Vecics Reise in den nächsten Jahren gehen wird? Es ist extrem schwer vorauszusagen. Vecic bringt alle spielerischen Voraussetzungen und das nötige Feuer mit, aber der Weg ist steinig.
Die Schweiz ist aktuell gesegnet mit vier Toptalenten bei den Junioren, das Finale in Roland Garros wurde sogar zu einem Schweizer Duell zwischen Dominic Stricker und Leandro Riedi, aber ob wirklich einer auch nur ein bisschen in die Fußstapfen von Roger Federer und Stan Wawrinka treten kann, ist dann doch eher unwahrscheinlich. Alessandro Greco, Leiter Spitzensport beim Schweizer Tennisverband, kam bei einer Berechnung der Wahrscheinlichkeit eines Durchbruchs beim Übergang der Junioren zu den Profis auf 0,5 Prozent. Eine brutale Zahl.
Erscheinungen wie die erst 16-jährige Coco Gauff, die jetzt schon mit der Weltelite mithält, als wäre es ein Kinderspiel, oder die 19-jährige Iga Swiatek, die auf atemberaubende Weise quasi wie aus dem Nichts die French Open gewann und dabei mal eben Superstars wie Simona Halep vom Platz schoss, sind - Achtung Untertreibung - äußerst selten. Auch die erst 17-jährige Kanadierin Leyla Fernandez, die in Paris zwischenzeitlich Petra Kvitova dominierte, ist mit besonderem Talent gesegnet. Und selbst bei ihr muss man die nächsten Entwicklungsschritte abwarten.
Victoria Jimenez Kasintseva, eine 15-Jährige aus Andorra, gewann in Melbourne, schied in Paris aber früh aus. Es gibt 30, 40, 50 Mädchen - alle bringen mehr als genug Talent mit. Alle wollen nach oben - ohne Garantie auf den Durchbruch.
Die verlorene Generation: Ein Unglück kommt selten allein
Wer wissen will, wie es laufen kann, muss sich nur die Generation anschauen, die die Nachfolge von Angelique Kerber, Julia Görges, Sabine Lisicki und Andrea Petkovic hätte antreten sollen.
Keine deutsche Spielerin im Alterssegment zwischen 20 und 30 steht aktuell in den Top 100. Auch wenn es immer noch Kandidatinnen für einen etwas späteren Durchbruch gibt - Jule Niemeier oder Katharina Gerlach seien hier genannt - ist eine Lücke erkennbar.
Aber kann man hier wirklich jemandem einen Vorwurf für die fehlenden neuen Stars machen? "Es ist nicht so, dass wir zehn Jahre geschlafen oder uns ausgeruht haben, sondern die Lücke war eigentlich geschlossen und jetzt ist sie wieder aufgegangen", erklärt Rittner im Gespräch mit DAZN und SPOX.
Barbara Rittner: "Das ist einfach auch Pech"
Was Rittner meint: Dinah Pfizenmaier stand unter den ersten 70 der Welt mit Anfang 20 und hat sich schwer am Handgelenk verletzt. Annika Beck stand mit Anfang 20 unter den ersten 50 der Welt, hatte dann Rücken- und auch etwas mentale Probleme und hat ebenfalls aufgehört. Anna-Lena Friedsam war jung auf dem Sprung in die Top-20, ist jetzt mittlerweile zweimal an der Schulter operiert und kommt gerade zurück.
Antonia Lottner war mit 16 in Paris im Halbfinale in der Jugend, stand schon ganz früh in den Top 200 der Welt und hat den Sprung noch nicht geschafft. Und dann lagen die größten Hoffnungen wohl auf Carina Witthöft, die früh in den Top 50 zu finden war, Talent ohne Ende hat, nach einem frühen Hype mit dem Druck aber so gar nicht zurechtkam, womöglich teils falsche Prioritäten setzte und vielleicht, vielleicht auch nach einer Pause nicht noch einmal zurückkommen wird.
"Individuell beleuchtet ist es sehr, sehr unglücklich gelaufen, das ist einfach auch Pech", sagt Rittner deshalb.
Petkovic: "Habe das am Anfang auch nicht gerafft"
Viel ist allerdings auch steuerbar auf dem Weg nach vorne - und dabei geht es in den meisten Fällen um weit mehr als um das Trainieren einer technisch sauberen Vorhand. Es geht um Dinge wie Intensität. Darum zu verstehen, was Intensität überhaupt bedeutet. "Ich habe das am Anfang auch nicht gerafft. Man muss es spüren", erzählt Petkovic.
"Erst als es bei einer Trainingseinheit in Australien Klick machte, war die Sache plötzlich klar. Es ist besser, eine Stunde intensiv zu trainieren als vier Stunden ohne die richtige Spannung. Solange du das nicht erlernt hast und es nicht Tag für Tag abrufen kannst, wird es schwer mit dem Sprung nach vorne", ergänzt sie.
"Bei den Mädels sieht man ein bisschen, dass sie noch fluktuieren. Sie spielen fünf Minuten unmenschlich und dann gehen fünf Minuten mal alle Bälle irgendwo hin", beschreibt es Petkovic. Man kann nur erahnen, wie viel die jungen Talente aus Trainingseinheiten und Gesprächen mit ihr ziehen können.
Welche Talente haben den tiefen Glauben an sich?
Petkovic hatte zwar diesen Wow-Moment für sich, als sie wusste, dass sie wirklich mit den Besten mithalten kann und sich endgültig auch selbst überzeugt hatte. Das war in Tokio, als sie die damalige Nummer Fünf der Welt, Svetlana Kuznetsova, schlug. Sie weiß aber auch, dass man im Normalfall nicht mit einem großen Knall die Tür aufreißt. Es gilt Hürden zu überwinden, schrittweise und immer und immer wieder.
"Ich weiß noch, als ich angefangen habe, kleinere Turniere zu spielen, habe ich ganz oft in den ersten Runden verloren, und als ich mein erstes gewonnen habe, habe ich fünf hintereinander gewonnen. Und dann ging es weiter zu den etwas größeren Events, da habe ich wieder ganz oft in der ersten Runde verloren. Als ich das erste gewonnen habe, habe ich drei hintereinander gewonnen", sagt Petkovic.
Dieses immer Dranbleiben ist aber manchmal gar nicht so leicht zu vermitteln, räumt Rittner ein. "Da sehe ich einen kleinen Unterschied zu früher. Die Mädels heute haben manchmal diese Schwankungen auch in ihrer inneren Einstellung. Der tiefe Glaube ist so wichtig, aber ich habe das Gefühl, dass sie manchmal ein bisschen aufgeben oder zurückziehen."
Umso wichtiger sind Bestätigungen. Nastasja Schunk schlug im Sommer Anna-Lena Friedsam und konnte sich im Fernsehen anschauen, wie dieselbe Anna-Lena Friedsam bei den US Open gegen keine Geringere als Angelique Kerber mithalten konnte. So weit ist sie also nicht entfernt.
Petkovic: "Da geht es ums Überleben"
Wenn sie die nötige Härte und Stressresistenz entwickeln kann. Eine Härte, die Petkovic von ihren aus Serbien stammenden Eltern praktisch eingepflanzt bekam.
"Mein Vater hat ganz oft darauf bestanden, dass ich auch in Serbien Turniere spiele. Dort ist der Wettkampf ein ganz anderer. Da geht es ums Überleben. Wenn du da nicht Sportler wirst, kann das manchmal den Unterschied machen zwischen 'Ich kann meine Familie ernähren oder eben nicht'. Und er hat darauf bestanden, dass ich oft in Serbien nationale Turniere spiele. Am Anfang war ich noch ständig heulend auf dem Platz, aber irgendwann hatte ich mich daran gewöhnt", so Petkovic.
Vater Petkovic also. Keine Talente-Diskussion kommt ohne eine Diskussion über die Rolle der Eltern aus. Oft sind sie Vater/Mutter auch Trainer/-in in Personalunion und verpassen den Zeitpunkt, an dem es besser wäre, loszulassen und die Coachingarbeit in externe Hände zu legen. Häufig ist auch der Beschützungsdrang zu groß, was die Entwicklung von Eigenverantwortung und einer starken Persönlichkeit verhindert.
"Ich war 14 Tage alleine in Antalya. Ich wusste nicht, wie ich heimkomme. Ich hatte kein Geld, aber ich habe irgendwie gespielt und mich zurechtgefunden", ist Petkovic froh, dass sie früh Stress ausgesetzt wurde und so eine harte Schale "antrainiert" wurde. Stress gezielt provozieren, die Talente aus der Komfortzone holen, ihnen nicht alles perfekt zurecht zu legen - auch das gehört zur Arbeit der Nachwuchstrainer.
Als Petkovic gegen Siegemund spielen musste
Einmal, da wurde Petkovic früh in ihrer Entwicklung gezwungen, immer und immer wieder gegen Siegemund zu spielen. Das Problem dabei: Die junge Petko hasste das, mit der variantenreichen Spielweise Siegemunds kam sie nicht zurecht.
Petkovic wurde zum Durchdrehen genötigt, von Nervenausbrüchen des Grauens spricht sie heute. Aber irgendwann hatte sie es überwunden und war einen Schritt weiter, um eines Tages bereit zu sein, auf dem Court Philippe Chatrier in Paris zu stehen und nicht komplett überfordert zu sein.
Aber wer sind diejenigen, die bereit sind, diese Stresssituationen anzunehmen und einen Weg zu gehen, auf dem es auch mal dunkel wird? Wer sind diejenigen, die eine besondere Leidenschaft und Liebe für den Sport in sich tragen? Wer besitzt die Fähigkeit, jegliche Probleme abseits des Platzes komplett auszublenden, sobald er ins Rampenlicht tritt?
Rittner über ihre Bewunderung für Steffi Graf
Große Champions vereinen diese Fähigkeiten, ob sie Roger Federer oder Steffi Graf heißen.
"Ich erinnere mich, dass ich Steffi bei den US Open mal gefragt habe, wie sie das alles aushält, da saß ihr Papa gerade im Gefängnis. Und sie meinte nur: 'Sobald ich den Tennisplatz betrete, bin ich frei. Da blende ich alles andere aus und dann mache ich das, was ich kann. Und da bin ich glücklich.' Mich hat das damals schockiert, weil mir das nicht so gelungen ist und ich beim Seitenwechsel auch mal schlechte Gedanken hatte", berichtet Rittner.
Ob Alexandra Vecic eines Tages ein großer Champion sein wird? Nochmal: Niemand kann hier eine sichere Prognose stellen. Geduld ist gefragt. Sehr viel Geduld. Ein Beispiel gefällig? Sofia Kenin ist nach ihrem Triumph in Melbourne und ihrer Final-Teilnahme in Paris eine der Spielerinnen der Stunde im Jahr 2020, aber im Juniorinnen-Alter war sie in den USA nur die Nummer vier, fünf oder sechs.
Mut machen sollte den deutschen Fans aber bei aller Ungewissheit eine selbstbewusste Antwort von Vecic auf die Frage, wo sie in zehn Jahren stehen will. "Natürlich würde ich gerne bis dahin ein paar Grand Slams gewinnen und ich würde mich gerne auf Rang eins der Weltrangliste sehen."