Ein absoluter Underdog schockt einen namhaften Star auf dem heiligen Rasen: Es sind die Geschichten, die die Tennis-Fans sehen wollen.
Wie die Nr. 591 Wimbledon schockte
Und umso mehr, wenn der absolute Underdog ein Engländer ist - in einer Zeit, in der das englische Tennis den Zuschauern in seinem Mekka sonst nicht viele Highlights zu bieten hatte.
Es war das Jahr 1991, Andy Murray war noch fern, auch die Achtungserfolge von Greg Rusedski und Tim Henman Ende der Neunziger noch Zukunftsmusik. Jahrelang hatte kein englischer Spieler in London einen gesetzten Star besiegt. Und es war eher nicht damit zu rechnen, dass sich das ändern würde am 29. Juni vor 32 Jahren.
Der junge Goran Ivanisevic, im Halbfinale des Vorjahrs erst von Boris Becker gestoppt, schickte sich an zu einem weiteren Anlauf, bei den All-England Championships groß aufzutrumpfen. Sein Gegner: Ein Mann namens Nick Brown, Nummer 591 der Welt, und nach einer mäßig erfolgreichen Karriere eigentlich schon zurückgetreten.
Doch an diesem Tag spielte er gegen den heutigen Coach von Superstar Novak Djokovic das Match seines Lebens.
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Wimbledon 1991: Nick Brown schockte die Welt
Der damals 29 Jahre alte Mann aus der Arbeiterstadt Warrington in der Grafschaft Cheshire war dank einer Wildcard Teil des Gipfeltreffens des Tennis-Zirkus, aus dem er sich Jahre vorher schon zurückgezogen hatte.
Der einstige britische U21-Meister hatte Mitte der Achtziger seine Laufbahn schon beendet, er war nicht erfolgreich genug, um sich die Turnierreisen weiter leisten zu können, wurde stattdessen schon in jungen Jahren Trainer - unter anderem auch schon für Talent Henman.
Weil er im Davis Cup gebraucht wurde, feierte Brown 1989 ein Comeback, dessen Höhepunkt eine Finalteilnahme in Bristol im selben Jahr war. Er unterlag dort dem einstigen deutschen Davis-Cup-Helden Eric Jelen.
Ob er die sportliche Qualifikation für Wimbledon geschafft hätte? Ungewiss. Er bekam eine Freikarte der Organisatoren, die an der Teilnahme von Lokalmatadoren immer ein Interesse haben.
Sieg gegen Goran Ivanisevic hatte historische Dimension
In Runde 1 besiegte Brown den US-Qualifikanten Mark Keil, dass mehr gehen würde, schien unmöglich: In Runde 2 wartete auf Court 13 Aufschlagriese Ivanisevic, Nummer 10 der Setzliste, später auch langjähriger Rekordhalter für die meisten Asse auf der ATP-Tour - der an diesem Tag aber nicht wusste, wie ihm geschah.
Nachdem in Satz 1 noch alles nach Drehbuch zu laufen schien, entglitt dem manchmal zwischen Genie und Wahnsinn schwankenden Kraftpaket aus Kroatien das Match. Brown steigerte sich in einen Rausch und triumphierte 4:6, 6:3, 7:6, 6:3. Noch nie in der Geschichte des Tennis hatte ein in der Weltrangliste so niedrig platzierter Spieler einen so viel höher gerankten Star bezwungen.
Die Sensation wurde für die Reporter vor Ort noch schöner, als Brown hinterher die kuriose Geschichte seiner Anreise zu dem Match erzählte. Er ließ sich von einem Kumpel auf dessen Harley Davidson in den Londoner Südwesten fahren. Die Heimreise nach dem Erstrunden-Match hatte ihm zu lange gedauert.
Ivanisevic erreichte 2001 sein Ziel
Browns großer Sieg blieb ein One-Hit-Wonder, in Runde 3 war gegen den Franzosen Thierry Champion Schluss, bald darauf beendete er seine aktive Karriere endgültig und orientierte sich dauerhaft ins Trainerfach. Der heute 61-Jährige ist inzwischen auch Tennis-Experte beim englischsprachigen Eurosport.
Die wechselhafte Karriere von Ivanisevic erreichte ihren Höhepunkt zehn Jahre später, ebenfalls in Wimbledon: Nach einem Halbfinalsieg gegen Browns Zögling Henman gewann er im Endspiel ein Fünfsatz-Drama gegen Patrick Rafter und holte den ersten und einzigen Grand-Slam-Titel seiner 2004 beendeten Karriere.