„Ich habe ein großes Herz.“
Die unglaubliche Murray-Story
Viele Menschen sagen das über sich - doch im Fall von Andy Murray dürfte dies noch die Untertreibung des Jahrhunderts sein.
Anschließend wurde es sogar noch ein wenig schlüpfrig, als der Schotte im On-Court-Interview auf den Hinweis des Ex-Tennisprofis John Fitzgerald, dass bei ihm sicher alles groß wäre, entgegnete: „Ich bin nicht sicher, ob meine Frau da zustimmen würde.“
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Andy Murray schreibt Tennis-Geschichte
Wenige Minuten zuvor hatte Murray Geschichte geschrieben, als er um 4.05 Uhr am Freitagmorgen (Ortszeit) das längste Match seiner Karriere in einem Fünf-Satz-Thriller für sich entschied. (NEWS: Epischer Thriller bei Australian Open!)
Mit 5:45 Stunden hatten der 35-Jährige und sein Gegner Thanasi Kokkinakis den Rekord für das längste Australian-Open-Match der Geschichte zwar um wenige Minuten verpasst - doch Murray hatte dennoch Historisches vollbracht. (NEWS: Alles zu den Australian Open)
Denn als erster Spieler in der Open Era (seit 1968) schaffte er es, zum elften Mal einen Zwei-Satz-Rückstand noch zu drehen - und keine Statistik dieser Welt beschreibt Andy Murray und dessen Tennis-Karriere besser als diese.
Australian Open: Murray mit Zauberpunkt
Und der einzige Punkt, den man späteren Generationen zeigen muss, um klarzumachen, was für ein einzigartiger Spieler Murray war, passierte ebenfalls in diesem Match beim Stand von 4:6, 6:7 und 0:2 aus seiner Sicht.
Zu einem Zeitpunkt, als der 35-Jährige dem sicheren Aus ins Auge blickte und mancher wohl bereits klein beigegeben hätte, kämpfte Murray in einem über zehnminütigen Aufschlagspiel gegen den deutlich jüngeren Kontrahenten verbissen um den letzten Strohhalm.
Bei seinem vierten Breakball passierte dann Unglaubliches: Murray ersprintete zunächst zwei bei vielen bereits als Gewinnschlag von Kokkinakis verbuchte Bälle in die Ecke - dabei stöhnte er von Schmerzen geplagt auf, da seine Metallhüfte sich bei den schnellen Drehungen bemerkbar machte.
Es folgten drei Überkopfbälle des Australiers am Netz, die Murray alle erahnte und erlief, ehe er mit einem perfekten Not-Lob seinen Gegner zur Grundlinie zurückdrängen konnte. Kokkinakis, wohl auch ratlos, wie er gegen diesen Typen den Punkt gewinnen sollte, schlug kurz darauf den Ball ins Netz.
Tennisprofis rasten auf Social Media aus
Murray hielt sich anschließend eine Hand ans Ohr und gestikulierte in Richtung der ausflippenden Zuschauer, dass er diese nicht hören könne. Dann schrie er seine Emotionen heraus - und bekam sogar noch den Daumen nach oben von Kokkinakis, der so etwas wohl auch noch nie gesehen hatte.
Auf Social Media rasteten selbst andere Tennisprofis aus. Christopher Eubanks schrieb beispielweise, dass dies wohl der beste Breakball war, den er je gesehen hatte. Der 41-jährige Feliciano Lopez schrieb sogar, dass Murray sein Held sei.
Und dann gab es da noch die Nachricht von Juan Martin del Potro, der Murray als „amazing legend“ titulierte. Wohl wenige können besser nachfühlen, wie sehr sich Murray quält, als der leidgeprüfte Argentinier, der im vergangenen Jahr seine Karriere unter Tränen beendete.
Am Ende des Jahres hatte del Potro aber angedeutet, über ein Comeback nachzudenken, sofern es der Körper zulasse - und Murrays aktuelle Erfolge machen dem 34-Jährigen sicher ähnlich Mut wie vielen anderen verletzungsgeplagten Spielern.
Murray stoppte Federer, Nadal und Djokovic
Schließlich dürfte Murrays Krankenakte mehrere Ordner füllen.
Vor allem seine Hüfte plagte ihn über viele Jahre und eine erste Operation brachte keine große Besserung. Im Juli 2018 fiel der dreimalige Grand-Slam-Sieger schließlich auf Platz 839 zurück - und war damit nur noch der 23.-beste Brite. (SERVICE: ATP-Weltrangliste)
Nur anderthalb Jahre zuvor hatte Murray die Nummer eins der Weltrangliste übernommen, nachdem er im gleichen Jahr zum zweiten Mal Wimbledon und zum zweiten Mal Einzel-Gold bei Olympia gewonnen hatte.
Zurecht galt Murray als Mitglied der Big 4, denn trotz der drei Grand-Slam-Erfolge von Stan Wawrinka war Murray der Einzige, der es konstant mit Roger Federer, Rafael Nadal und Novak Djokovic aufnehmen konnte.
Seine Verletzungen sorgten aber schließlich dafür, dass heute allgemein meist nur noch von den Big 3 gesprochen wird.
Murray wird bereits 2019 verabschiedet
Im Januar 2019 schien sogar bereits alles vorbei zu sein, als Murray am Rande der Australian Open unter Tränen seinen Rücktritt spätestens nach Wimbledon ankündigte. Nach seinem Erstrundenaus in Australien folgte auf dem Court bereits eine große Abschiedszeremonie mit Video-Botschaften zahlreicher ATP- und WTA-Stars.
Auch nach Tipps zahlreicher Weggefährten wie der Doppel-Legende Bob Bryan, den ähnliche Hüftprobleme geplagt hatten und der diese nach einer speziellen Hüft-OP wieder loswurde, ließ sich Murray aber doch noch ein Hintertürchen offen.
Doch keiner hatte damals wohl erwartet, dass Murray mit dieser neuen Metallhüfte bis heute noch solche Tennis-Wunder vollbringt wie gegen Kokkinakis. Vor allem, nachdem er bereits in Runde eins sensationell den Italiener Matteo Berrettini, Wimbledon-Finalist von 2021, in fünf Sätzen in die Knie gezwungen hatte.
Nach dem unfassbaren Match gegen Kokkinakis holten die Social-Media-Betreuer der WTA sogar das alte Abschiedsvideo für Murray mit zahlreichen Botschaften der Spielerinnen hervor, nachdem dieser in Australien seinen Rücktritt angekündigt hatte, und versahen es mit einem verlegen lachenden Emoji.
Für Murray schließt sich in Runde 3 ein Kreis
In der dritten Runde schließt sich nun der Kreis für Murray, denn dort trifft er mit Roberto Bautista-Agut auf genau jenen Gegner, gegen den er 2019 nach fünf Sätzen verloren hatte, woraufhin sein Abschied zelebriert wurde.
Murray wird nach fast elf Stunden Tennis mit 35 Jahren, einer Metall-Hüfte und einer verrückten Zu-Bett-Gehzeit aufgrund der Ansetzungen in Melbourne, die Murray selbst als Farce bezeichnete, wohl auf dem Zahnfleisch gehen.
Aber wenn sich einer davon nicht stoppen lässt, ist das Murray. So kehrte er nur sieben Stunden nach seinem Thriller gegen Kokkinakis bereits auf die Anlage zurück und trainierte. Dennoch geht er als Außenseiter in das Duell mit dem Spanier.
Doch unterschätzen sollte ihn besser keiner. Denn eines weiß jeder über Andy Murray - er hat ein verdammt großes Herz.