Es ist der 7. Juli 1985, 17.26 Uhr Ortszeit in London.
Die Geburt eines überforderten Helden
Boris Becker hämmert mit seinem letzten Aufschlag Kevin Curren ein Ass um die Ohren - und kreiert einen der denkwürdigsten Momente der deutschen Sportgeschichte, der über die Sportart Tennis deutlich hinausgeht.
Game, Set, Match Becker. 6:3, 6:7, 7:6, 6:4. Ein Rotschopf aus der Kleinstadt Leimen im Rhein-Neckar-Kreis ist der jüngste Sieger in der Geschichte von Wimbledon und der neue Held einer Nation.
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Boris Becker reißt die Arme hoch und dreht sich zur Loge, in der sein Vater Karl-Heinz den Auslöser seiner Pocket-Kamera drückt. Und Beckers legendär geschäftstüchtiger Manager Ion Tiriac klopft dem vor ihm sitzenden Trainer Günter Bosch so heftig auf den Rücken, dass es wehtun muss. (HINTERGRUND: Ion Tiriac: So viel strich er von Boris Becker ein)
„Es wird das Leben dieses 17-Jährigen mit Sicherheit ändern“, sagt TV-Kommentator Rainer Deike im ZDF voraus - und wird Recht behalten, auf mehr als einer Ebene.
2022 noch hatte Becker den Jahrestag seines großen Augenblicks von einem Gefängnis in Nuffield in der Grafschaft Oxfordshire aus erlebt, eineinhalb Autostunden von der Stätte seines großen Triumphs entfernt. Inzwischen ist der nunmehr 54-Jährige wieder ein freier Mann.
Wimbledon 1985: Ein Urknall - im Guten wie im Schlechten
Es ist viel passiert in Beckers Leben seit diesem 7. Juli 1985: Fünf weitere Grand-Slam-Titel, der Olympiasieg mit Freundfeind Michael Stich, 12 Wochen als Nummer 1 der Weltrangliste, vier Auszeichnungen als Deutschlands Sportler des Jahres, eine zweite Tennis-Karriere als Trainer von Novak Djokovic, Aufnahme in die Hall of Fame des deutschen Sports.
Aber eben auch: der Steuerhinterziehungsprozess. Der Krebs-Tod seines Vaters 1999. Der Bruch zweier Ehen und vieler weiterer persönlicher und geschäftlicher Beziehungen. Die Besenkammer-Affäre. Die Privatinsolvenz. Die Verurteilung zu zweieinhalb Jahren Haft wegen damit verbundener Vergehen.
Der Kosmos Becker ist heute Allgemein- und nationales Kulturgut, der erste Wimbledon-Sieg war sein Urknall - im Guten wie im Schlechten.
„Ich war vielleicht noch nicht reif genug“
„Ich wäre ein besserer Tennisspieler geworden, wenn ich Wimbledon später gewonnen hätte“, sagte Becker später immer wieder.
Auch persönlich hatte seine „Mondlandung“, wie er selbst den historischen Erfolg nannte, eine Schattenseite: „Ich war damals vielleicht noch nicht reif genug, plötzlich so im Rampenlicht zu stehen. Ich hatte ja eigentlich keine Jugend. Ich war ja schon sehr früh mit Erwachsenen zusammen und konnte nicht normal aufwachsen, wie das halt 17-, 18-Jährige tun.“
Er habe „irgendwo einen 24-Stunden-Job“, sagte Becker einmal, ein Privatleben hätte er nie mehr gehabt. Die besondere Faszination seines Heimatlandes für das, was er vollbracht hat: Sie war auch ein Fluch, eine Überforderung des Helden. „Ich war nie euer Boris, ich war immer bei mir“, blickte Becker bitter auf die Vereinnahmung zurück.
Boris Becker weckte schon Wochen vorher Vorahnungen
Den Grundstein hatte das vom rumänisch-deutschen Macher-Duo Tiriac und Bosch entdeckte und geförderte Talent schon Wochen vorher gelegt.
Becker gewann im Juni das Vorbereitungsturnier im Londoner Queen‘s Club - so furios, dass der Finalgegner und zweimalige Grand-Slam-Gewinner Johan Kriek aus Südafrika schon eine Ahnung hatte: „Wenn Becker so wie heute jeden Tag in Wimbledon spielt, kann er das Turnier gewinnen.“ Er tat es.
Hank Pfister. Matt Anger. Joakim Nyström. Tim Mayotte. Henri Leconte. Anders Järryd. Der ungesetzte Becker arbeitete sich von Runde zu Runde weiter, während die damals etabliertem Top-Favoriten Mats Wilander, Ivan Lendl, John McEnroe und Jimmy Connors nach und nach die Segel strichen.
Gegen den an 8 gesetzten US-Amerikaner Curren vollendete Becker seinen Coup, auf den ein Helden-Empfang in der Heimat Leimen, in den deutschen TV-Studios und bei Bundeskanzler Helmut Kohl in Bonn folgte - ein Triumphzug, auf den er schon lange vor seinem Tiefpunkt in diesem Jahr mit gemischten Gefühlen zurückblickte. (HINTERGRUND: Das wurde aus Kevin Curren)
Es hatte wohl auch damit zu tun, dass der später nach England gezogene Becker sich nostalgischen Rückblicken auf den Schlüsselmoment schon länger verweigert hatte.
„Ich lebe im Hier und Jetzt und denke an die Zukunft und bin keiner, der zu viel in der Vergangenheit rumwühlt“, sagte er 2015, am 30. Jahrestag.
Becker zurück auf der Tennis-Bühne
Und nun? Becker hat gebüßt, aus dem Gefängnis längst wieder raus - und macht das, was er am besten kann: Über Tennis sprechen.
Als Eurosport-Experte im TV kehrte er Anfang des Jahres zurück. Und auch auf Wimbledon - und den verbliebenden letzten Deutschen Alexander Zverev - hat der frühere Champions dieser Tage natürlich wieder ein sehr aufmerksames Auge.