Am Ende wirkte es so, als könne Jule Niemeier keinen Meter mehr laufen.
So tickt die deutsche Wimbledon-Hoffnung
Mit rotem Kopf schlich die 22 Jahre Jahre alte Dortmunderin über den heiligen Rasen in Wimbledon, leise lächelnd, aber doch mehr in sich gekehrt nach dieser Nervenschlacht, die gut ausgegangen war, gut für die Debütantin, die also jetzt im Achtelfinale des bedeutendsten Tennis-Turniers der Welt steht.
Vorausgegangen war ein Dreisatzsieg über die Ukrainerin Lesia Zurenko - 6:4, 3:6, 6:3 in Zahlen - und dabei hatte es nicht immer danach ausgesehen, als werde Niemeier diejenige sein, die am Ende leise lächeln darf.
- Der Tennis-Podcast „Cross Court“: bei SPORT1, auf Spotify, Apple Podcasts und überall, wo es Podcasts gibt
Niemeier schürt große Hoffnung
Schwer war es gewesen, schwerer als in Runde zwei gegen Anett Kontaveit, ihres Zeichens Weltranglisten-Zweite. Niemeier lag zwei Breaks zurück - im ersten wie zweiten Satz.
Den zweiten verlor sie zwar auch, aber das machte nichts; Niemeier spielte weiter - und gewann, trifft nun auf die Britin Heather Watson, der es bei Grand Slams auf diesem Level ebenfalls an Erfahrung fehlt.
In einer Zeit, in der das deutsche Damen-Tennis deutlich an Qualität verloren hat, könnte Niemeier die neue große Nummer sein. Mit ihrer erfrischenden Art und ihrem mutigen Auftritt auf dem Platz schürt sie neue Hoffnungen auf eine bessere Zeit.
Solche Auftritt könnte es also bald häufiger geben für die 22-Jährige, denn die Tendenz zeigt klar nach oben.
Niemeier bekommt Lob von Rittner
„Bei Jule setzte sich das Puzzle nun weiter zusammen. Sie hat ein sehr professionelles Team um sich und wird sicher von der Erfahrung, die sie gerade sammelt, profitieren“, sagte Tennis-Bundestrainerin Barbara Rittner dem SID.
So schaffte sie bei den French Open erstmals den Sprung ins Hauptfeld. Zwar scheiterte sie direkt in der ersten Runde, dennoch nahm sie den Schwung mit, um wenig später ihren ersten Turniersieg auf der WTA Tour zu feiern.
Es wird nur noch beeindruckender, wenn man überlegt, dass sie überhaupt erst seit etwas mehr als einem Jahr auf der höchsten Profi-Ebene unterwegs ist.
Niemeier: „Muss es mir beweisen“
In Straßburg kämpfte sie sich damals durch die Qualifikation ins Hauptfeld. Dort angekommen zeigte sie ihre ganze Klasse und scheiterte im Halbfinale in einem Dreisatz-Krimi an der späteren French-Open-Siegerin Barbora Krejcikova.
Die Partie gab der damaligen Nummer 216 der Welt viel Auftrieb, denn der Weg war für sie trotz des großen Talents längst nicht einfach. Immer wieder warfen sie Verletzungen zurück und verhinderten so ihren Aufstieg in der Weltrangliste.
„Dass ich das Level und das Niveau habe, das weiß ich. Jetzt geht es aber eben darum, dass man es sich selbst auch mit Ergebnissen beweist“, sagte sie Anfang des Jahres im SPORT1-Podcast Cross Court.
Wechsel nach Regensburg sorgt für Aufschwung
Ihre Schulterverletzung 2019 entpuppte sich rückwirkend als Glücksfall für die junge Dame, die bereits im Alter von fünf Jahren bei Tennisturnieren an den Start ging.
Damals trainierte sie an der Alexander Waske Tennis-Universität, aber das dortige medizinische Personal konnte die Ursache ihrer Schmerzen nicht finden. Erst Florian Zitzelsberger fand die Lösung. „Flo hat mir direkt geholfen, nach ein paar Wochen waren die Probleme weg“, schilderte sie dem Tennis Magazin.
Schnell wurde für sie klar, dass sie dauerhaft mit dem Physiotherapeuten zusammenarbeiten will. Dafür verließ sie das hessische Offenbach, wo sie seit dem dem 15 Lebensjahr wohnte, und zog im Sommer 2020 nach Regensburg.
Eigentlich wollte sie sich zunächst alleine durchschlagen, aber nach einer Einheit mit Michael Geserer war für sie klar, dass sie ihn als Trainer an ihrer Seite haben will. „Wir hatten eine Trainingseinheit und es fühlte sich an, als würden wir uns schon ewig kennen“, erinnert sie sich.
Kas neuer Trainer
Das Duo, das einst Julia Görges bereits zum Erfolg verholfen hat, fand die richtige Ansprache für das Talent und half ihr auf der Reise weg von den ITF-Turnieren hin zur WTA-Tour.
Mittlerweile wird sie von Christopher Kas trainiert, der im Frühjahr für Geserer übernommen hat. „Sie hat eine ungemeine Neugier und einen Wissendurst“, lobte der einstige Doppel-Experte jüngst bei der Süddeutschen Zeitung seinen Schützling und fügte an, „sie will im Training immer noch was ausprobieren.“
Doch das ist natürlich längst nicht alles, was den passionierten Fan vom BVB (“Ich bin in Dortmund geboren, daher ist es relativ schwierig, nicht Dortmund zu supporten.“) ausmacht. Kas stellt vor allem „softe“ Faktoren heraus, die sie so stark machen: Ballgefühl, Spielintelligenz, das Lesen der Gegnerin - alles wichtige Faktoren, um den Sprung in die Weltspitze zu schaffen.
„Spielerisch ist sie für mich eine absolute Top-20-Spielerin“, meint Kollegin Andrea Petkovic und fügt mit einem Lachen hinzu, „das weiß sie, das sage ich ihr jeden Tag sieben bis achtmal.“
Wie weit geht es in Wimbledon?
In Wimbledon kann sie dabei besonders auf eine Stärke setzen, die im Frauen-Tennis eher ungewohnt ist. So geht sie gerne ans Netz und versucht dort ihre Punkte zu erzielen. In London nutzte sie rund 70 Prozent aller Chancen am Netz, um Punkte zu erzielen - ein absoluter Top-Wert.
Das nötige Selbstvertrauen für die Weltspitze hat sie bereits. „Ich denke, dass ich eigentlich fast jede Gegnerin schlagen kann, die hier ist“, meint Niemeier.
Das klingt jedoch nicht arrogant oder überheblich, sondern so sie ist halt: ehrgeizig und abgezockt auf der einen Seite, bescheiden und bodenständig an der anderen. Diese Kombination wird sie auch brauchen, um im Achtelfinale zu bestehen.