Der Doping-Fall Jannik Sinner ist doch noch nicht vorbei - die globale Anti-Doping-Agentur WADA will den Freispruch für den Gewinner der Australian und US Open kippen und eine Sperre erwirken.
„Geht darum, wie gut die Ausrede ist“
Während die Nummer 1 der ATP-Weltrangliste „überrascht und enttäuscht“ ist, findet der deutsche Doping-Experte Professor Fritz Sörgel die neue Wendung folgerichtig. Er hatte schon unmittelbar nach Bekanntwerden des Falls scharf kritisiert, dass der Italiener ungeschoren davonkam - und hatte eine Intervention der WADA sowohl prophezeit als auch gefordert.
Im SPORT1-Interview ordnet der Pharmakologe nun die neue Lage ein.
SPORT1: Herr Professor Sörgel, wie bewerten Sie das Vorgehen der WADA im Fall Sinner?
Professor Fritz Sörgel: Zwiespältig. Einerseits ist die Berufung logisch und angebracht. Es gibt das Strict-Liability-Prinzip, dass prinzipiell jeder Athlet für die in seinem Körper gefunden Substanzen verantwortlich ist und das war bei Sinners Freispruch durch die ITIA zu einfach ausgehebelt worden. Andererseits wundere ich mich, warum man sich jetzt schon auf die voraussichtliche Dauer der Sperre festlegt und damit dem weiteren Verfahren vorgreift: Das finde ich so nicht in Ordnung.
Sörgel zu Doping-Fall Sinner: „Machen wir uns nichts vor“
SPORT1: Glauben Sie, dass Sinner am Ende tatsächlich für ein bis zwei Jahre aus dem Verkehr gezogen wird?
Sörgel: Meine Prognose ist: Am Ende, wenn es vor dem internationalen Sportgerichtshof CAS als letzte Instanz landen wird, wird die Strafe kürzer ausfallen – das kann man anhand der oft milden und sportlerfreundlichen Rechtsprechung des CAS schon absehen. Machen wir uns nichts vor: Bei so einem Fall wird immer eine Ausrede präsentiert und dann geht es darum, wie gut die Ausrede ist und wie die gut bezahlten Anwälte damit durchkommen. Indirekt haben das Tennis-Größen wie Novak Djokovic angedeutet, Bevorzugung der Spitzenleute, Vernachlässigung der nicht in der Rangliste sehr hoch stehenden.
SPORT1: Sinners Erklärung lautet, dass der Masseur ihm die Substanz Clostebol fahrlässig einmassiert habe, nachdem dieser vorher seinen verletzten kleinen Finger damit wegen einer Wunde behandelt hätte.
Sörgel: Eine gute Geschichte – und gut für Sinner ist, dass wissenschaftlich erwiesen ist, dass der Wirkstoff über eine Massage tatsächlich gut in den Körper gelangen kann. Wenngleich fraglich ist, dass das, was man auf eine so kleine Fingerwunde wie die des Masseurs so viel Clostebol draufsprühen würde, für zwei positive Dopingtests in der gemessenen Menge reicht. Aber gut, im Sport sind ja schon ganz andere Geschichten erfolgreich erzählt worden.
Doping? „Es geht darum, wie gut die Ausrede ist“
SPORT1: Welche meinen Sie?
Sörgel: Denken Sie an Sinners Tennis-Kollegin Sara Errani, die behauptet hatte: Es war das Brustkrebsmedikament der Mutter und die Nudeln, die Mama gekocht hätte, seien leider damit kontaminiert worden. Errani war ursprünglich mit gerade mal zwei Monaten Sperre davongekommen, ehe der CAS die Strafe auf immer noch sehr milde zehn Monate hochkorrigierte. Auf der anderen Seite gibt es den bekannten Fall der jungen Eiskunstläuferin Kamila Walijewa, die von einem Glas getrunken haben soll, das vorher ihr Großvater für die Einnahme seines Herzmedikamentes verwendet haben soll – auch eine schöne Homestory. Sie wurde trotzdem und trotz ihres jungen Alters für vier Jahre gesperrt. Wenn man schon Strafmilderungen in Erwägung zieht, warum dann nicht bei einer 15-Jährigen, die sich gegen das System nicht wehren konnte. In dem Fall war recht klar, dass das Urteil mehr auf das betrügerische russische Sportsystem hinter ihr gemünzt war.
SPORT1: Spielen auch jetzt politische Erwägungen eine Rolle? Die WADA steht stark in der Kritik wegen des laxen Umgangs mit der chinesischen Schwimm-Affäre …
Sörgel: Ja, ich habe das Gefühl, dass die WADA anders reagiert hätte, wenn die China-Geschichte nicht wäre. Die Organisation steht stark unter Druck – völlig zu Recht, übrigens – und kann jetzt Handlungsfähigkeit und Härte demonstrieren. Mit dem milden Urteil, das am Ende wahrscheinlich rauskommen wird, wird die WADA gut leben können, die italienische NADA, Nado Italia, auch. Und natürlich Sinner. Ob es ein faires Urteil im Vergleich zu anderen Fällen sein wird, ist die andere Frage. Das ist so eine Sache mit diesem System, bei dem es am Ende – und es wird ja auch halb-offen so vom CAS gesagt – darum geht, wie gut die Ausrede ist, die man für ein Vergehen finden kann. Das ist letztlich auch eine Frage von Glück und Pech.
SPORT1: Was meinen Sie?
Sörgel: Schauen Sie sich den Fall des HSV-Fußballers Mario Vuskovic an, der wie Walijewa vier Jahre gesperrt wurde. Sein Pech – wenn man es so nennen will – ist: Er wurde positiv auf EPO getestet, EPO kann man nur spritzen, da gibt es keine gute Erklärung von wegen: Ich bin in eine Menschenmenge geraten und dabei ist mir versehentlich von einem Unbekanntem EPO gespritzt worden. Wobei, jetzt wo ich drüber nachdenke: Man könnte behaupten, der Masseur hätte was aus seinem Medizinkasten anderes verabreichen wollen und leider die Spritze verwechselt. Aber das ist dann vielleicht doch zu abenteuerlich ... (lacht)