Diese Idee wird polarisieren! Olivier Niggli, Generaldirektor der Welt-Anti-Doping-Agentur WADA, hat sich nach den positiven Doping-Befunden der Tennis-Superstars Jannik Sinner und Iga Swiatek in einem Interview mit der L’Equipe zu Wort gemeldet und dabei mit einer umstrittenen Idee für mächtig Aufsehen gesorgt.
„Der absolute Tiefpunkt“
Der 54-Jährige schlug vor, neue Grenzwerte für die verbotenen Substanzen einzuführen, um eine Flut von neuen Dopingvergehen zu verhindern.
„Es gibt nicht mehr (Dopingbetrüger) als zuvor, aber die Labore sind effizienter darin, winzige Mengen von Dopingstoffen nachzuweisen. Wir müssen einen Arbeitstisch eröffnen, um zu verstehen, wie wir mit dieser Situation umgehen sollen“, erklärte der Kanadier seine Sicht der Dinge.
Sinner und Swiatek Opfer der Technologie?
Swiatek und Sinner seien möglicherweise Opfer verbesserter Technologien geworden. „Heute gibt es ein Problem mit Kontamination“, führte Niggli weiter aus. Bei den beiden prominenten Doping-Sündern seien nur minimale Mengen der verbotenen Substanzen festgestellt worden.
„Die gefundenen Mengen sind so gering, dass man durch selbst triviale Handlungen kontaminiert werden könnte. Wenn wir unser Leben vereinfachen wollten, könnten wir neue Schwellenwerte festlegen und all diese Fälle nicht entdecken“, erklärte er, wies aber auch auf die Problematik dieser Regeländerung hin: „Die wirkliche Frage ist: Sind wir bereit, Mikrodosierung zu akzeptieren? Wo hören wir auf?“
Mit Connor Niland, dem irischen Davis-Cup-Chef, hat er jedoch bereits einen Befürworter dieser Ansicht auf seiner Seite. „Ich denke, wir sollten eine Schwelle für eine verbotene Substanz festlegen“, drückte der ehemalige Tennisprofi bei Tennis365 seine Unterstützung aus.
„Wenn es weniger als ein Milliardstel eines Gramms ist, ist das für mich nichts“, ist sich Niland sicher. Mit den aktuellen Schwellenwerten könne man sogar auf der Straße kontaminiert werden, wenn sich „jemand an einem abreibt“.
„Sinner hatte einfach Pech“
Für den 34-Jährigen könnte das Festhalten der aktuellen Regularien auch größere Konsequenzen auf die Karrieren der Tennisprofis haben: „Wenn es sich um diese Mengen handelt, sollte dies nicht das Vermächtnis und die Errungenschaften einer Karriere beschmutzen.“
Im Fall Sinner ist er sich deswegen auch sicher: „Ich glaube, er hatte einfach Pech. Ich denke nicht, dass er gedopt hat, aber momentan gibt es sicherlich viel um ihn herum mit dem laufenden Fall.“
Sörgel: „Absoluter Tiefpunkt“
Doch nicht überall stößt der Vorschlag Nigglis auf solche Akzeptanz und Zustimmung. Doping-Experte Prof. Dr. Fritz Sörgel hat im Gespräch mit SPORT1 zu den Aussagen des Generaldirektors Stellung bezogen und Niggli dabei vehement widersprochen.
„Das ist der absolute, absolute Tiefpunkt, wenn jemand sagt, die Sportler werden Opfer der Analytik“, echauffierte sich der 73-Jährige. „Das hält man eigentlich nicht mehr für möglich.“
Auch auf Nilands Aussage angesprochen, erwiderte Sörgel: „Das ist natürlich Unsinn, aber Funktionäre neigen dazu, etwas zu sagen, was ihnen eingeflüstert wird.“ Generell habe sich der Anti-Doping-Kampf mit dem Thema Schwellenwert schon immer sehr schwergetan.
„Es nervt mich persönlich auch, wenn man immer von Milliardstel-Konzentration spricht, als ob das was Besonderes wäre. Auf diesem Niveau sind wir heute in aller Regel nun mal angelangt. Sollen die Doping-Labore vielleicht die modernen Geräte in den Keller stellen?“, wütet der Professor für Pharmakologie.
Fall Swiatek: Verunreinigung ein Problem
Der Dopingkampf fände auf vielen Ebenen statt, erklärt Sörgel, „die Erfolge des Nachweises von Dopingstoffen hat den Sport, nach den Sünden bis vor wenigen Jahren, sauberer gemacht.“ Die Analytik, die eine zentrale Aufgabe im Kampf gegen Doping habe, zu kastrieren, wäre laut Sörgel „dumm.“
Der Sport müsse die Doping-Probleme eher mit vernünftigen Mitteln und Wissenschaftlern regeln. „Eine 100-Milliarden-Industrie wie der Sport kann nicht auf dem analytischen Niveau der Siebzigerjahre kontrolliert werden“, stellt Sörgel klar.
Beim Fall von Swiatek habe, laut der Sportlerin selbst, die Verunreinigung eines nicht verschreibungspflichtigen Medikaments (Melatonin) zum positiven Dopingtest geführt.
Sörgel unterstützt diese Aussage: „Ich muss als mit der Herstellung von Medikamenten und den Problemen damit Vertrauter leider eingestehen, dass es tatsächlich Verunreinigungen bei der Herstellung von Medikamenten gibt.“
„Das geht nicht“: Scharfe Kritik an ITIA
Ob die polnische Tennisspielerin also unschuldig ist, könne er dennoch nicht beurteilen.
Stattdessen übt er scharfe Kritik an der International Tennis Integrity Agency (ITIA) und deren Kommunikation: „So wie dieser Fall jetzt wieder von der ITIA fabriziert wird, das geht einfach nicht. Kurze Strafen ohne ausführliche Aufklärung, das geht nicht. Die WADA verheimlicht bis heute ihre Vorgehensweise in der Analytik bei solchen Fällen.“
Und eines ist für Sörgel klar: „Es gibt zigtausende von Dopingtests weltweit und keine Hinweise, dass die Nachweisgrenze zu tief gesetzt wird. Und warum sind jetzt ausgerechnet die beiden Spitzensportler im Herren- und Damen-Tennis positiv? Sie werden auch nicht öfter getestet als andere Sportler der Top 10 oder Top 20.“