Als Lance Armstrong im Jahr 2002 bei der Tour de France den Ritt auf das Plateau de Beille absolvierte, brauchte er 45:55 Minuten, ehe er im Ziel ankam. Zwei Jahre später konnte er seine Zeit sogar um 24 Sekunden verbessern.
Tour-Irrwitz: Armstrong erstaunt
Als Tadej Pogacar auf der 15. Etappe der diesjährigen Tour eben jenen Anstieg erklomm, war er früher am Ziel. Viel früher. 39 Minuten und 44 Sekunden hatte der Slowene benötigt, um am gewünschten Ort anzukommen.
Die Außergewöhnlichkeit der auf der 15. Etappe gezeigten Leistungen - von Pogacar und dem unterlegenen Jonas Vingegaard - sorgen für Staunen. Auch bei Armstrong, dessen Leistungen von damals wegen seiner Doping-Entlarvung inzwischen in anderem Licht erscheinen. Der siebenfach disqualifizierte Ex-Tourrekordsieger witzelt nun in seiner neuen Rolle als Podcaster über die neuen Fabelleistungen bei der Tour: „Das gibt dir ein beschissenes Gefühl. Ich wäre wahrscheinlich mit der Truppe von Astana um Mark Cavendish ins Ziel gekommen. Mein schlimmster Albtraum“, erklärte er dazu in seiner Show „The Move“.
Pogacar und Vingegaard beeindrucken bei der Tour
Mit seiner Zeit von 39:44 Minuten unterbot Tagessieger Pogacar die bisherige Bestmarke von Marco Pantani aus dem Jahr 1998 (43:28 Minuten) um weit mehr als drei Minuten.
„Tadej macht Tadej-Sachen“, kommentierte Armstrong: „Es ist einfach nur überwältigend - die Geschwindigkeit, die Wattzahlen und der Vergleich mit anderen Generationen.“
Nun hat es stets eine gewisse Schlagseite, wenn der Protagonist der Hochdoping-Ära über seine Erben spricht. Und ein gewisser Argwohn über die neuen Fabelleistungen schwingt wegen der dunklen Vergangenheit der Sportart auch immer mit - wobei zu beachten ist, dass der Vergleich der Zeiten von früher und heute Tücken hat.
Zwischen der Ära Armstrong / Ullrich / Pantani und der Ära Pogacar / Vingegaard / Evenepoel liegen rund zwei Jahrzehnte mit vielen Fortschritten in Sachen Rad-Technologie und Trainingsmethodik, auch sind die unterschiedlichen Etappen-Kontexte zu beachten - genauer Zuschnitt, Wetter, Zeitpunkt der Tour. Einen besonderen Wert hat aber der Blick auf die Wattzahl, also die Kraft, die der Sportler auf das Pedal bringt.
Wattzahl als wichtigste Größe
Im Radsport ist die Wattzahl eine bessere Größe als die Zeit, um Fahrer aus verschiedenen Ären miteinander zu vergleichen, wird doch zum Beispiel auch das Gewicht des Rads in den Wert mit einberechnet.
Gerade aber auch in diesem Punkt zeigten Pogacar und auch Konkurrent Vingegaard am Sonntag irrwitzige Leistungen. Um es zu präzisieren: die beste und zweitbeste Kletterleistung der Historie. Die Etappe war die beste Kletteretappe der Geschichte.
Mit 198,5 Kilometern und insgesamt 5.071 Höhenmetern war es ohnehin eine der schwersten Bergetappen der Neuzeit. Und diese verlief höchst spektakulär. 10,4 Kilometer vor dem Ziel griff Vingegaard an und nur Pogacar konnte ihm folgen. Weitere fünf Kilometer später setzte der Slowene dann zum Angriff an und distanzierte den Dänen deutlich.
Zwar herrschte Gegenwind, dies beeindruckte den Fahrer vom Team UAE Emirate aber wenig. 6,98 Watt pro Kilo Körpergewicht brachte er über fast 40 Minuten auf das Rad. Auf Meereshöhe entspricht dies einer Leistung von 7,27 Watt. Vingegaard verlor zwar 68 Sekunden, brachte es dennoch auf 6,85 Watt über 40:58 Minuten.
Pantani-Leistung wird relativiert
Zum Vergleich: Marco Pantanis berühmt gewordene Leistung auf der Flumserberg-Etappe während der Tour de Suisse 1995, als er über 23:30 Minuten eine Wattzahl von überragenden 7,34 pro Kilogramm erzielte, wirkt lange nicht mehr so beeindruckend wie einst. Vor allem wenn man bedenkt, dass er zuvor einen einfacheren Tag hinter sich hatte und die Strecke nicht annähernd so hoch in den Bergen stattfand.
„Tadej und Jonas haben gezeigt, dass sie über den anderen stehen. Aber Tadej steht noch weiter oben. Er ist auf einem anderen Planeten“, zollte ihnen Kontrahent Remco Evenepoel im Vélo Club-Interview Respekt.
Ex-Radprofi Stef Clement kann in einer Analyse für den Sender NOS auch nur Gutes in den aktuellen Höchstleistungen finden: „Wir sind alle große Gewinner. Das war ein fantastisches Pyrenäen-Wochenende. Das ist der beste Radsport, den wir je gesehen haben.“