Dass Tadej Pogacar ein exzellenter Radfahrer ist, dürfte nicht nur begeisterten Radsportfans klar sein. 2020 und 2021 gewann er die Tour de France, 2024 den Giro d‘Italia. Was der Slowene allerdings bei der aktuell laufenden Tour zeigt, ist auf einem anderen Level. Einem Level, das die einen begeistert, andere verärgert – und wieder andere einfach nur zweifelnd zurücklässt.
„Mit EPO unsere Grenzen erreicht“
Der 25-Jährige dominiert seine Konkurrenten nach Belieben, knackt dabei diverse Uralt-Rekorde - und liegt vor dem Abschluss-Zeitfahren am Sonntag über fünf Minuten und damit praktisch uneinholbar vor Jonas Vingegaard, dem Tour-Sieger der beiden vergangenen Jahre.
Längst wird hinter den Kulissen und auch ganz öffentlich darüber spekuliert, wie seine Leistungen zustande kommen. So befeuerte etwa Stéphane Heulot zuletzt mit seinen Aussagen die Diskussion. „Man muss immer zweifeln“, sagte der Teamchef von Lotto-Dstny in einem Interview mit der L‘Équipe. „Die Geschichte hat uns das gelehrt, sie wiederholt sich in den Erklärungen, die uns gegeben werden. Wir sind von einer bestimmten Vergangenheit geprägt.“
Doping wollte er zwar nicht direkt unterstellen, er habe aber „keine Antworten“, warum Pogacar oder Vingegaard dem Rest des Feldes so überlegen seien. Doch das „D-Wort“ fällt immer häufiger.
Doping? Das sagt Experte Fritz Sörgel
Fritz Sörgel, einer der führenden Doping-Experten Deutschlands, erklärt im Gespräch mit SPORT1, dass nicht zwingend verbotene Substanzen hinter der Dominanz stecken müssen. „Es ist offensichtlich eine neue Form des Trainings. Es ist schon seit Jahren so, dass man die Biochemie und die Physiologie des Körpers voll ausnutzt und dass die Sportwissenschaftler auf einem Niveau angelangt sind, das solche Leistungen möglich macht“, sagt der Leiter des Instituts für Biomedizinische und Pharmazeutische Forschung in Nürnberg.
„Was mich wirklich überrascht hat, sind Statements anderer Trainer und Radfahrer, die von der Trainingsart nicht gewusst haben wollen“, meint Sörgel aber.
Doch selbst das würde nicht garantieren, dass die Teams ein Niveau erreichen. „Es ist nicht so einfach, eine komplizierte Trainingsform von einem Team zum anderen zu übertragen“, erklärt der Wissenschaftler. Dazu benötige es viel Arbeit mit den Sportlern, viel Training und viel Wissenschaft. So sei es auch zu erklären, „dass solche enormen Unterschiede zwischen den Teams zustande kommen“.
Sind die Doping-Spekulationen um Pogacar und Vingegaard also aus der Luft gegriffen? „Ich kann natürlich nicht ausschließen, dass sie Substanzen verwenden, die vielleicht noch nicht auf der Dopingliste stehen“, kommentiert Sörgel. „Aber im Moment kann ich Ihnen überhaupt keine Substanz sagen, die dafür infrage käme. Es gibt keine“, macht er deutlich und erklärt: „Mit dem EPO haben wir unsere Grenzen erreicht. Mehr EPO geht nicht, mehr Wachstumshormon geht nicht, mehr Anabolika gehen nicht. Wir haben im Doping mit chemischen Substanzen unsere Grenzen erreicht - vorläufig.“
Sörgel: „Der Erfolg steht über allem“
Was durchaus einen Unterschied mache, sei „intelligentes Abstimmen“ des Trainings, aber auch Nahrungsergänzungsmittel und Vitamine, die „möglicherweise doch eine gewisse, synergistische Rolle“ spielen könnten.
Seien es Proteinpulver, die manche - etwa Fußballer - teils in Unmengen verzehrten, oder Kreatin, das ebenfalls nicht verboten sei: „Welche Effekte sie im Zusammenspiel haben, ist nicht von der Wissenschaft untersucht“, erklärt Sörgel. „Das interessiert eigentlich nur die Sportmannschaften. Und die experimentieren mit den Sportlern in jede beliebige Richtung. Hochleistungssportler machen ja alles mit. Der Erfolg steht über allem.“
Drei große Rennställe - unter ihnen die von Pogacar und Vingegaard - hatten auf Nachfrage auch öffentlich gemacht, mit sogenannten Kohlenmonoxid-Rebreathern zu arbeiten, offiziell zur Leistungsdiagnostik ihrer Fahrer. Die Enthüllung entfachte eine Debatte, ob das hochentwickelte Gerät auch zur Leistungssteigerung verwendet werden könnte.
Kohlenmonoxid: WADA sei gefragt
Dazu sagt der Doping-Experte: „Es kann im Moment keiner wirklich sagen, ob das einen zusätzlichen Effekt hat. Das ist für mich eine Methode, bei der die WADA (Welt-Anti-Doping-Agentur, Anm. d. Red.) gefragt ist.“
Es sei eine Kurzexposition, „eine Art Blitzschock des Körpers, der vielleicht Mechanismen in Gang setzt, an die wir derzeit gar nicht denken, geschweige die wissenschaftlichen Grundlagen dazu haben“, erklärt Sörgel.
Pogacar hatte gleich die erste Pyrenäen-Etappe für sich entscheiden und auf dem Berg Pla D‘Adet einen Uralt-Rekord pulverisiert. Den 10,58 Kilometer langen Anstieg mit 7,99 Prozent Steigung absolvierte er in 27:50 Minuten - und damit zwei Minuten schneller als Tony Rominger und Zenon Jaskula im Jahr 1993.
Eine Etappe später der nächste Fabelrekord: Für den Ritt auf das Plateau de Beille benötigte der 25-Jährige 39:40 Minuten. Bis dato schnellster Fahrer für jenen Abschnitt war Marco Pantani im Jahr 1998, als er zu Hochzeiten des EPO-Dopings fast vier Minuten länger brauchte.
„Tadej macht Tadej-Sachen“, kommentierte Lance Armstrong, der für den besagten Tour-Abschnitt einst rund sechs Minuten mehr gebraucht hatte, in seinem Podcast „The Move“.
Tour-Ikone: „Haben wir Beweise?“
Andere äußerten sich noch lautstärker, nahmen Pogacar in Schutz. So vor allem der fünfmalige Tour-Sieger Bernard Hinault, der die erneut aufgeflammte Doping-Debatte ganz offensichtlich satthat. „Ich bin angewidert! Warum haben wir immer Zweifel?“, schimpfte er in der Tageszeitung Ouest-France: „Wir sollten aufhören, uns ständig Fragen zu stellen. Das ist lächerlich. Haben wir Beweise?“
Der Franzose glaubt, dass hinter der Doping-Debatte Neid steckt. „Wenn ich an seiner Stelle wäre und so fahren würde, würde dann jemand einen Verdacht äußern? Nein. Aber bei Ausländern muss jeder Zweifel äußern.“
Tour-Dominator Pogacar hatte sich auch selbst zu seinen Leistungssprüngen geäußert. Bei einer Medienkonferenz hatte er sie mit einer besseren Trainingsmethodik, besserer Ernährung und den großen technischen Fortschritten der Räder begründet.
Für den französischen Radsport-Trainer Albane Lorenzini keine valide Erklärung. Bei Ouest-France sagte er, der technische Fortschritt bei Reifen und anderen Elementen wie Kette und Schmierstoffe würde höchstens „30, maximal 40 Sekunden“ ausmachen, „aber nicht fast vier Minuten“.
Angesichts des bevorstehenden Tour-Triumphs des Slowenen dürften die Zweifel bleiben. Am Sonntag endet die Tour de France mit einem Zeitfahren in Nizza.