Ein Betrüger und ein anderer Betrüger streiten sich ums Thema Fairplay: So könnte man es aus heutiger Sicht schroff zusammenfassen.
Ein legendärer Ullrich-Moment
Aber ein bisschen mehr steckte am Ende irgendwie doch drin in dieser Geschichte, die bei der Tour de France vor 20 Jahren die Sportwelt bewegte.
Der Zweikampf von Luz-Ariden - in einer tragenden Nebenrolle: ein gelber Beutel - ist bis heute als eine der berühmtesten und dramatischsten Episoden der Radsport-Rivalität zwischen Jan Ullrich und Lance Armstrong in Erinnerung.
Und bis heute streiten sich Beteiligte und Augenzeugen, ob „Ulle“ damals tatsächlich auf den gestürzten Armstrong gewartet hat oder ob die berühmte Fairplay-Geste eine Art von Täuschung war.
Jan Ullrich startete bei Tour de France 2003 nach Tiefpunkt neu
Es war das Jahr 2003, das Jahr 5 der vom Blutbeschleuniger Epo mit angetriebenen Ära Armstrong - und das Jahr, in dem Ullrich zwischenzeitlich die besten Chancen zu haben schien, die Dominanz des Texaners zu durchbrechen.
Für den deutschen Tour-Sieger von 1997 war 2003 ein Neustart, nachdem er im Jahr zuvor seinen bis dahin größten Tiefpunkt erlebt hatte: Bei der Tour 2002 fehlte er, weil er im Frühjahr positiv auf Amphetamine getestet worden war.
Ullrich, wenige Wochen zuvor auch wegen eines unter Alkoholeinfluss verursachten Autounfalls in Freiburg in den Schlagzeilen, erklärte es mit Ecstasy-Pillen, die er sich in einer Disco hätte andrehen lassen.
Seine Rückkehr verknüpfte er mit einem Tapetenwechsel: Er verließ zusammen mit Mentor Rudy Pevenage das Team Telekom, in dem er den Durchbruch gefeiert hatte. Es ging zum Team Coast - kurz darauf wegen Geldproblemen des Namensgebers umbenannt in Team Bianchi. Und er fuhr dort seine beste Tour seit der Triumphfahrt sechs Jahre vorher.
Ullrich kam Lance Armstrong nah wie nie
Obwohl von einer Lebensmittelvergiftung zurückgeworfen, machte sich Ullrich eine ungewohnte Schwächephase seines großen Rivalen zunutze, als er beim Zeitfahren von Gaillac nach Cap Découverte 1:36 Minuten auf Armstrong gutmachte und seine erste Tour-Etappe seit 1998 gewann.
Mit einer starken Bergfahrt auf das Skigebiet Ax-3 Domaines erhöhte Ullrich den Druck, lag nur noch 15 Sekunden hinter dem scheinbar Unverwundbaren.
Vor der 15. Etappe über den Col d‘Aspin und den Col du Tourmalet am 21. Juli 2003 war Armstrong unter Zugzwang, zumal ein weiteres Zeitfahren noch anstand und Ullrich in die Karten spielte.
Beim Schlussanstieg nach Luz-Ardiden zog Ausreißer Iban Mayo die beiden Rivalen mit, Armstrong attackierte – und das Drama nahm seinen Lauf.
Beutel eines Zuschauers verursacht Sturz von Armstrong
Armstrongs rechter Lenker verhedderte sich beim Angriff auf Ullrich im gelben Beutel eines Zuschauers, Armstrong und Mayo stürzten – Ullrich hatte freie Fahrt.
Der damals 29 Jahre alte Ullrich fand sich damit in derselben Situation wie Armstrong exakt zwei Jahre zuvor: Damals war Ullrich bei der Abfahrt vom Peyresourde zu Fall gekommen.
Armstrong wartete auf ihn, wie es die ungeschriebenen Gesetze der Szene vorsahen, vertrieb sich die Zeit mit Dehnübungen.
Als die Verhältnisse begradigt waren, fuhr er los und gewann Etappe und Tour. Es war die berühmte Rundfahrt, bei der Armstrong zuvor lang bluffte und dann nach seinem legendären Blick zurück am Alpe d‘Huez („The Look“) aufs Tempo drückte und alle abhängte.
2003 tat Ullrich nun nach allgemeinem Eindruck – auch dem von Armstrong – dasselbe wie zwei Jahre zuvor sein Rivale und drosselte das Tempo. Es gab dem Texaner, der zwischendurch noch ein zweites Mal strauchelte, die Möglichkeit aufzuschließen.
Armstrong ließ seinen nächsten Angriff folgen, holte in der Etappe am Ende 52 weitere Sekunden raus. Weil Ullrich auch im Zeitfahren zu langsam war, war Armstrong der Triumph nicht mehr zu nehmen.
Ein moralischer Sieg für Jan Ullrich
Für Ullrich war die Tour 2003 dennoch ein moralischer Sieg: Nicht zuletzt wegen seiner Geste wurde er auch ein zweites Mal zu Deutschlands Sportler des Jahres gewählt.
Ullrich bekam von der Deutschen Olympischen Gesellschaft (DOG) zudem auch den Fairplay-Preis des deutschen Sports. „Wenn sich ein Spitzensportler im vielleicht wichtigsten Wettkampf seines Lebens entsprechend der Regeln des Fair Play verhält, ist dies vor allem auch beispielgebend für den Nachwuchssport“, lobte DOG-Präsident Hans-Joachim Klein.
Auch Armstrong bedankte sich beim Konkurrenten: „Ich tat das gleiche für Jan 2001, als er auf der Abfahrt vom Peyresourde gestürzt war. Ich verhielt mich damals korrekt und er verhielt sich diesmal korrekt.“
Dann jedoch änderte er seine Meinung.
Hat Ullrich wirklich auf Armstrong gewartet? US-Star änderte Meinung
Zwei Monate später überraschte der US-Amerikaner, als er Ullrich den moralischen Sieg im Nachhinein aberkannte.
„In TV-Wiederholungen erscheint es mir, dass Ullrich Renntempo fuhr“, schrieb er in dem damals veröffentlichten Buch „Jede Sekunde zählt“: „Er griff nicht an, aber er wartete auch nicht.“ Nicht, bis sein Landsmann Tyler Hamilton zu Ullrich vorgefahren, ihn ermahnt und „Halt an!“ gerufen hätte.
Ullrich reagierte irritiert: „Jeder hat gesehen, was los war. Ich würde immer wieder so handeln“, teilte er der Bild mit.
Ullrich vs. Armstrong: Heute ist der Blick auf beide getrübt
Die damaligen Differenzen zwischen den Rivalen von einst sind inzwischen kein großes Thema mehr: Den heute 49 Jahre alten Ullrich und den 51-jährigen Armstrong verbindet ein gutes Verhältnis, auch in der tiefen Lebenskrise vor einigen Jahren stand der Texaner „Ulle“ demonstrativ bei, die beiden treffen sich regelmäßig.
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Getrübt ist derweil nun aber bekanntlich der Blick auf das sportliche Wirken beider: Alle sieben Tour-Siege sind Armstrong mittlerweile aberkannt worden, nachdem sein umfassendes Doping-System durch staatliche Ermittlungen aufgeflogen ist.
Auch Ullrich stolperte 2006 über seine Verwicklung in den Fuentes-Skandal, wurde 2012 vom Sportgericht CAS letztinstanzlich schuldig gesprochen und verlor alle Erfolge ab 2005 (nicht jedoch den Tour-Triumph von 1997).
Das Selbstbild, in einer umfassend dopingverseuchten und auf den eigenen Vorteil bedachten Branche letztlich niemanden betrogen zu haben, bewahrten sich beide.
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