Das Gelbe Trikot war nur noch schiere Hülle, und in ihr steckte ein Häuflein Elend: Durchnässt, bitterlich frierend und am Ende seiner Kräfte quälte sich Jan Ullrich hinauf nach Les Deux-Alpes, den Titel der Tour de France hatte er da längst an Marco Pantani verloren.
Als Ullrich durch die Hölle ging
Daheim an den Bildschirmen verfiel die neugeborene Radsport-Nation Deutschland in Schockstarre. (Ullrichs Schock-Geständnis: „Ich war fast tot“)
„Es war die schlimmste Etappe meines Lebens“, sagte Ullrich später über jenen 27. Juli 1998. Genau ein Jahr zuvor war er in Paris zum ersten und bislang einzigen deutschen Tour-Sieger geworden, hatte den Radsport der Bravo-Generation geöffnet.
Und nun wurde dieser Tag zum Wendepunkt und gewissermaßen zum Anfang vom wenig ruhmreichen sportlichen Ende - schon bevor der Strudel der Doping-Enthüllungen ihn, den 2004 unter rätselhaften Umständen verstorbenen Pantani und viele andere Größen der Zeit vom Sockel riss.
Ullrich: „Haben mich ins Zimmer geschleppt und ausgezogen“
Ullrich war als Topfavorit zur Tour 1998 angetreten. Bis dahin war es für den jungen Rostocker stetig bergauf gegangen, Ullrich stand sinnbildlich für schiere Kraft, ein rothaariger Siegfried. Nichts deutete darauf hin, dass sich dies nun ändern würde - zumal Ullrich bereits früh wieder ins Gelbe Trikot gefahren war.
Und dann kam diese verfluchte Alpenetappe, kam dieser verfluchte Galibier. Ullrich hatte auch im lausigen Wetter weit in den Anstieg dieses über 2600 m hohen Tour-Riesen mit seinen Helfern Bjarne Riis und Udo Bölts alle Angriffe pariert. Doch dann attackierte Marco Pantani. (SERVICE: der Radsport-Kalender)
Und Ullrich? Reagierte nicht, konnte nicht, blieb ohnmächtig im Sattel sitzen. Bis zur Passhöhe hatte Pantani im strömenden Regen fast drei Minuten herausgefahren, Ullrich beging Fehler, die ihm zum Verhängnis wurden: Pantani ließ sich vor der Abfahrt eine wärmende Jacke reichen, Ullrich nicht. Pantani aß, Ullrich nicht. Es kam zum berühmten Hungerast. Ein Defekt kurz vor dem Schlussanstieg tat sein übriges: Es wurde ein Drama.
„Es war kalt, es hat geregnet - mein Zuckerspeicher war leer“, erzählte Ullrich, der Les Deux-Alpes mit neun Minuten Rückstand erreichte, nach vielen Jahren Abstand: „Ich war oben so kaputt, dass meine Betreuer mich auf dem Rad zum Hotel schieben mussten. Dort haben sie meine Finger vom Lenker gelöst, mich ins Zimmer geschleppt und ausgezogen. Danach legten sie mich zwei Stunden lang in die Badewanne und fütterten mich.“ (Alle wichtigen Begriffe der Tour de France)
Sieg von Marco Pantani gilt noch immer
Einen Tag später gewann Ullrich immerhin die Alpenetappe nach Albertville, am Ende wurde er Tour-Zweiter hinter Pantani, dessen Sieg bis heute gilt, obwohl später ein positiver EPO-Test während der Tour 1998 ans Licht gekommen war.
Den Nimbus der Unbesiegbarkeit hatte Ullrich eingebüßt: Anstatt wie von ihm fast schon verlangt eine Ära zu prägen, sah er in den Jahren darauf kein Land gegen den großen Rivalen und Mitbetrüger Lance Armstrong.
Ullrich trug nie wieder das Gelbe Trikot, gewann nie wieder die Tour.