Die Tour de France ist zweifellos das renommierteste und größte Radrennen der Welt. Dennoch sollten die Gefahren und Risiken, denen sich die Fahrer auf den einzelnen Etappen aussetzen, keinesfalls unterschätzt werden.
“Paar Leuten gehört der Arsch versohlt“
Nach dem tragischen Tod von Gino Mäder Mitte Juni rücken die Sicherheitsmaßnahmen und der Schutz der Fahrer vor Beginn der diesjährigen Tour stark in den Fokus.
Im SPORT1-Interview äußert sich die deutsche Radsport-Legende Jens Voigt zu den Gefahren des Sports und gewährt Einblicke in seine persönlichen Erfahrungen. Dazu verrät Voigt seinen Favoriten für den Gesamtsieg der diesjährigen Ausgabe und gibt einen Ausblick auf die deutschen Chancen.
SPORT1: Herr Voigt, am Samstag startet die Tour de France. Der Tod von Gino Mäder überschattet den Beginn. Wie groß ist bei Ihnen dennoch die Vorfreude?
Jens Voigt: Die Vorfreude ist groß. Zumal ich Gino Mäder auch ein bisschen gekannt habe und Erinnerungen hochkamen. 2011 habe ich meinen Mannschaftskollegen und Freund Wouter Weylandt verloren. Ich glaube tatsächlich, dass sowohl Gino als auch Wouter, wenn sie mit uns hätten reden können, gesagt hätten: ‚Ich möchte auf keinen Fall, dass ihr alle für mich euren Sport beendet. Ich möchte, dass ihr raus geht und den Sport genießt, wie nie zuvor. Ich möchte nicht, dass ihr alle leidet und jahrelang um uns trauert. Ich möchte, dass ihr da heraus geht und das Leben genießt.‘ Daher überwiegt bei mir die Vorfreude gegenüber dem Schmerz.
Tour de France: Gefühlslage der Fahrer nach dem Mäder-Unglück
SPORT1: Wie schätzen Sie die Gefühlslage der Fahrer ein?
Voigt: Wir hatten Fabio Casartelli bei der Tour de France in den Neunzigern, Andrei Kivilev beim Rennen Paris-Nizza, den tödlichen Trainingsunfall von Ricardo Otxoa - und jetzt Gino Mäder. In den vergangenen 20 bis 30 Jahren gab es leider immer wieder Todesfälle. Für viele junge Fahrer ist es jetzt das erste Mal, dass sie das erleben. Das ist natürlich ein großer Schock. Sie erkennen bei allem Spaß an der Sache: Ein Sturz kann äußerst fatale Folgen haben. Da haben bestimmt einige lange daran zu knabbern.
Die Tour de France ist aber ein großes Rennen und ich hoffe, dass jeder bis dahin die Zeit gehabt hat, das Geschehene für sich zu verarbeiten und zu entscheiden, ob man für Gino ein schwarzes Armband tragen möchte oder irgendein anderes Zeichen der Anteilnahme. Dann steht hoffentlich bei der Tour der Sport im Vordergrund.
Wo wir gerade beim Thema sind: Ich habe die Nachricht bekommen, dass bei der dritten Etappe die Strecke um sechs Kilometer verändert wurde. Dadurch wurde die Runde um den gefährlichen Kreisverkehr umgebaut. Die Fahrer müssen im Finale jetzt nicht mehr durch diesen engen Kreisverkehr durch. Die Strecke ist mit 193 Kilometern nun sechs Kilometer länger. Auch da wird nachgedacht und zwei Wochen vorher noch überlegt, wie man es sicherer gestalten kann.
Radsport-Legende: „Leider ist es ein gefährlicher Sport“
SPORT1: Wie gefährlich ist eine Teilnahme bei der Tour de France? Wie hoch sind die Gefahren für die Fahrer?
Voigt: In aller Deutlichkeit: Jeder normale Tag bei der Tour ist gefährlich. ‚Oh, da hätte ich fast mein Leben verloren‘, denkt man einmal. Zweimal denkt man: ‚Da wäre ich fast gestürzt.‘ Und ungefähr 200 Mal denkt man: ‚Ja, da hat mich gerade jemand hinten berührt. Da habe ich kurz am Ellenbogen etwas gespürt.‘ Das ist normal. Sie betreiben kein Schach oder Bowling. Die Sturzgefahr ist jeden Tag voll präsent. So ist das leider. Aus eigener Erfahrung kann ich sagen, dass es ganz normal ist. Leider ist es ein gefährlicher Sport und das Restrisiko wird sich niemals auf Null minimieren lassen.
SPORT1: Ist es bei der Tour de France gefährlicher als bei anderen Radrennen?
Voigt: Ganz sicher! Weil die Tour einfach so enorm wichtig ist, dass die Risikobereitschaft für alle höher ist. Bei der Tour de France weiß jeder: Jede Position zählt. So unglaublich es klingt, aber das Finale, das Drängen um Positionen geht in der Tour de France schon bei Kilometer 60 oder 70 vor dem Ziel los. Bei der Hälfte der Etappe wird da eigentlich schon das Finale eingeläutet. Es wird um jede Position gekämpft und gedrängelt. Logischerweise resultiert das dann in mehr Stress und gefährlichen Momenten. 80 Fahrer wollen in die Top 20, wie soll das gehen? Deshalb gibt es die hohe Sturzgefahr bei der Tour de France und in anderen Rennen eben nicht. Es ist ein Segen und Fluch gleichzeitig.
Darum ist ein Aufprall im Radsport heutzutage härter
SPORT1: Hohes Tempo, spektakuläre Abfahrten: Ist der Radsport generell gefährlicher geworden?
Voigt: Ich würde sagen nein. Aber ich kann mich kaum an Todesfälle in Zeiten von Eddy Merckx erinnern (feierte seine größten Erfolge von 1965 bis 1975, Anm. d. Red.). Die Todesfälle hatten wir tatsächlich erst in den Zeiten des modernen Radsports. Der Radsport ist schneller geworden. Die Fahrer sind nicht unbedingt stärker geworden - aber das Material leichter. Auch die Räder sind viel schneller geworden. Die Durchschnittsgeschwindigkeiten der Klassiker liegen seit Jahren regelmäßig über 40 km/h. In meinem ersten Jahr war es undenkbar, damals waren es 37 bis 38 km/h. Natürlich kann man sagen, dass zwei km/h keinen Unterschied machen. Aber den Berg runter sind es dann zwischen 80 und 100 km/h. So einer wie Eddy Merckx mit seinem Baumwoll-Trikot und dem Stahlrahmen ist eben nicht mit 100 km/h gerollt, weil sein Fahrrad wegen des Luftwiderstandes nicht so schnell war. Ich selbst habe bei der Tour de Suisse eine Abfahrt gehabt, da hatte ich 119 km/h. Das war das Schnellste, was ich jemals gefahren bin. Heutzutage fahren alle Sportler zudem mit einem Einteiler, niemand fährt mehr mit Trikot und Rennhose. Das Material ist besser geworden, dadurch sind alle schneller geworden. Wenn es dann knallt, ist natürlich auch der Aufprall härter.
SPORT1: Über die Sicherheitsmaßnahmen wird schon seit geraumer Zeit diskutiert. Sind Sie der Meinung, dass die Standards veraltet sind?
Voigt: Es entwickelt sich immer weiter. Ich finde, man sollte mehr auf die Fahrer und die Fahrervertretung hören. Adam Hansen, der Präsident der Fahrer-Gewerkschaft CPA, hat noch vor dem Tod von Gino Mäder eine Umfrage unter den Fahrern gestartet. Wenn dann 70 Prozent der Fahrer sagen, sie wollen auf keinen Fall eine Zielankunft am Ende einer Abfahrt, sollte man umgehend darauf hören und das umsetzen. Da wird ein bisschen mehr Kommunikation und Zusammenarbeit nötig sein. Sie sind aber auf dem richtigen Weg. Die Fahrer selbst können auch ein bisschen Einfluss nehmen. Es ist aber natürlich schwer. Die fahren um einen Vertrag. Viele sind am Ende ihres Vertrags und wissen: ‚Ich muss irgendwas hier zeigen, um einen Vertrag zu bekommen.‘ Der Druck ist enorm hoch. Es gibt keine leichte, schnelle oder billige Möglichkeit, mit der alle glücklich sind.
Fangzäune im Radsport? „Schwer umzusetzen“
SPORT1: Was halten Sie von Fangzäunen, wie sie im Skisport angewendet werden?
Voigt: Das ist in der Idee sehr schön, aber wenn die Etappe 200 Kilometer lang ist, mit vier Pässen, dann reden wir von vier Mal 20 Kilometer Fangzaun. Das sind 80 Kilometer. Wer soll das bezahlen? Wer soll die aufbauen? Wer baut die wieder ab? Wer transportiert die? So wie der Radsport im Moment organisiert ist, mit den langen Etappen, sehe ich keine Möglichkeit, das wirklich umzusetzen. Beim Skifahren braucht man nur einen Zaun für das Renn-Wochenende - und die Strecke ist nur ein paar Kilometer, das ist beim Radsport nicht so. Von daher wird es sich schwer umsetzen lassen. Zumal beim Radsport außer der ASO (Amaury Sport Organisation, organisiert die Tour de France, Anm. d. Red.) auch kaum jemand Geld daran verdient. Alle anderen haben nicht die finanziellen Möglichkeiten.
SPORT1: Fabian Cancellara hat sich in einem Blick-Interview zu der Thematik geäußert. Er ist der Meinung, dass die aktuellen Regeln richtig sind, aber einfach nur durchgesetzt werden müssen. So gibt es ihm zufolge viele Auflagen, die Rennveranstalter erfüllen müssen, die vor allem kleine Rennen nicht erfüllen können, weshalb diese Wettkämpfe ausfallen. Teilen Sie diese Ansicht?
Voigt: Ja. Wie lange wissen wir schon, dass der Zielsprint bei der ersten Etappe der Polen-Rundfahrt gefährlich ist? Ich als Fahrer - schon acht Jahre im Ruhestand – bin da gefahren. Alter Falter, was für eine bescheuerte Ankunft. Jedes Jahr wurde sie genehmigt, immer wieder abgenickt, bis der schwere Sturz mit Groenewegen und Jakobsen passiert ist (Groenewegen hatte seinen Kontrahenten bei über 80 km/h in ein Absperrgitter gedrückt, Anm. d. Red.). Erst war nicht sicher, ob Jakobsen überlebt, dann war nicht sicher, ob er jemals wieder laufen wird. Am Ende ging es für ihn noch gut aus, aber muss erst so etwas passieren? Da gehört ein paar Leuten der Arsch versohlt, dass sie das seit Jahren abgenickt haben. Da könnte man sicherlich die Regeln konsequenter umsetzen.
Voigt mit Zuschauer-Appell: „Die Straße ist unser Büro“
SPORT1: Wie hoch ist das Risiko, dass es durch die Zuschauer zu Unfällen kommt?
Voigt: Eigentlich nicht so groß. Andererseits ist man immer wieder überrascht, dass nicht mehr passiert. Was ich schon oft erlebt habe, ist, dass Zuschauer ihre Großeltern im Rollstuhl dabeihaben. Dann werden sie in die erste Reihe geschoben, damit sie etwas sehen können. Die Zuschauer stehen teilweise aber schon an der weißen Mittellinie, damit sie etwas sehen können. Wenn die Fahrer dann kommen, springen sie zurück. Die Großeltern im Rollstuhl können aber nicht springen und stehen dann plötzlich schutzlos allein auf der Straße. Mit den Kinderwägen ist es das Gleiche. Ich habe mindestens einen Säugling gesehen, der zehn Zentimeter neben mir war, weil die Eltern vor Schreck weggesprungen sind. Den Zuschauern sollte klar sein: Die Straße ist unser Büro. Jeder Quadratzentimeter ist unser Arbeitsplatz. Auf keinen Fall sollte ein Zuschauer auch nur einen Fuß auf den Asphalt setzen. Ansonsten: Hunde an der Leine halten, auf die Kinder aufpassen. Man müsste den Zuschauern sagen: ‚Liebe Leute, ihr seid nicht die Show. Ihr könnt nicht im Borat-Kostüm auf die Straße rennen und zum Helikopter hochwinken. Zeigt lieber Unterstützung für die Fahrer.‘
SPORT1: Ist es realistisch, dass die Fahrer, auch um ihrer eigenen Gesundheit Willen, ihr Risiko minimieren, indem sie weniger risikoreich fahren?
Voigt: Das wäre zumindest hilfreich und vernünftig. Wir haben aber das Problem, dass es keinen Ansager mehr gibt, kein Schwergewicht, der sagt: ‚Das machen wir jetzt so und da halten sich alle dran, weil es unser aller Interesse ist.‘
Es gibt Fahrer, die das Zeitfahren nicht gewinnen können. Sie wissen, sie können nur in einer Abfahrt attackieren. Man kann verstehen, wenn ein Fahrer sagt: ‚Ich habe zwei Kinder zu Hause, eine Ehefrau und ein Haus zum Abzahlen. Ich muss meine Rechnungen bezahlen und brauche deshalb einen Vertrag für das nächste Jahr. Ich kann leider nur Berg abwärts attackieren.‘ Also macht er das. Das Schwierige ist, dass es so viele verschiedene Interessen gibt.
Voigts Favorit auf den Gesamtsieg
SPORT1: Haben sie einen Favoriten auf den Gesamtsieg?
Voigt: Ganz klar: Tadej Pogacar. Das ist für mich der Mann, den es zu schlagen gilt, den in meinen Augen aber keiner schlagen kann. Ich glaube, er wird sehr stark sein.
SPORT1: Wie schmerzlich ist es für den deutschen Radsport, dass Lennard Kämna nicht dabei ist?
Voigt: Das war für jemanden, der dicht am Radsport dran ist, schon abzusehen. Er hat einen harten Giro d´Italia gefahren und war viel am Arbeiten. Er ist drei Wochen quasi jeden Tag im Dauer-Regen gefahren. Er hat eine Pause verdient. Die Tour de France ist kein Wettkampf, den man nur mit 80 Prozent angehen sollte. Bei der Tour muss man 100 Prozent fit sein, ansonsten geht man unter. Man hilft der Mannschaft nicht, wenn man am dritten Tag nach Hause geht. Es gibt einen Grund, weshalb die ersten Drei des Giro d´Italia nicht bei der Tour de France am Start stehen. Zumal Bora-hansgrohe mit Nils Politt, vormaliger Etappensieger, auch noch einen sehr guten Deutschen hat. Emanuel Buchmann ist gerade in überzeugender Manier Deutscher Meister geworden. Da haben wir schon zwei sehr gute Deutsche, die auch eine Etappe gewinnen können. Was uns fehlt, ist ein dominanter Super-Sprinter wie es Greipel oder Kittel waren. Jemand, der auf Ansage zwei, drei Etappen gewinnt. Der sagt: ‚Ja klar, heute klatsche ich die alle an die Wand.‘
SPORT1: Es sind nur fünf Deutsche mit dabei - so wenige, wie seit 1989 nicht mehr. Macht Ihnen das Sorgen?
Voigt: Eigentlich nicht. Es ist eine Entwicklung, die jetzt eben so ist. Dafür hatten wir ein paar mehr Deutsche beim Giro und der WorldTour. Deutsche Fahrer sind immer sehr beliebt. Die sind zuverlässig und machen kein Stress. Auf die kann man immer bauen. Die Deutschen haben einen guten Ruf, da sehe ich kein Problem. Allerdings haben wir vielleicht zu wenige, die jetzt 14, 15, 16 Jahre alt sind, die diese Lücke irgendwann auffüllen. Derzeit haben wir eine gute Generation. Wir haben junge Spitzenfahrer, auch im Junioren- und U23-Bereich. Aber eben keine 15 bis 20 Fahrer mehr, bei denen man sagt: ‚Ja, der bekommt einen Platz bei der WorldTour und gewinnt eine Etappe.‘