Eddy Merckx hob Tadej Pogacar höchstpersönlich in den Legendenstatus. „Es ist offensichtlich, dass er jetzt über mir steht. Es gibt keinen Zweifel mehr“, sagte Merckx, für viele der größte Radprofi der Geschichte, über den Größten der Gegenwart, der Zeitung L‘Equipe.
„Das Unglaublichste der Geschichte“
Ungläubig hatte der 79-Jährige am Sonntag Pogacars 100-km-Flucht bei der Rad-WM in Zürich am TV verfolgt. Er wurde, wie er hinterher sagte, Zeuge eines „unglaublichen Ereignisses in der Geschichte des Radsports. Was er hier geleistet hat, ist unvorstellbar. Wir werden uns noch sehr lange an ihn erinnern.“
Was Pogacar in Zürich ablieferte, erinnerte an Merckx‘ berühmtesten Coup, die 130-Kilometer-Flucht am Col de Tourmalet bei der Tour 1969, die er damals mit knapp 18 Minuten Vorsprung gewann - was seinen Mythos als „Kannibale“ begründet hatte.
Von der „Krönung eines absoluten Monsters“ schrieb L‘Equipe, von einem „Wahnsinnsschlag“, einem „Meisterwerk“. Pogacar, das außerirdisch anmutende Phänomen.
Pogacar mit historischem Dreifach-Coup
Schon mehrfach hatte der 26-jährige Slowene die Grenzen des Vorstellbaren gesprengt (und damit auch den durch de Geschichte der Sportart immer präsenten Doping-Argwohn geweckt) - diesmal ging alles noch einen Schritt weiter: Eine Attacke war erwartet worden, die Offensive ist schließlich Pogacars beste Waffe. An einen Angriff 100 km vor dem Ziel hatte aber niemand gedacht.
„Selbstmörderisch“ nannte Doppel-Olympiasieger Remco Evenepoel die irrwitzige Aktion, der entthronte Titelverteidiger Mathieu van der Poel glaubte, Pogacar hätte in diesem Moment „den WM-Titel weggeworfen“, und selbst Pogacar war hinterher von sich selbst überrascht. „Dumm“ sei die Attacke gewesen, „ich weiß nicht, was ich mir dabei gedacht habe.“
Auf seinen Instinkt konnte sich Pogacar aber einmal mehr verlassen, auch seine Beine ließen ihn nicht im Stich. Pogacar, der in einer der besten Saisons der Radsport-Geschichte zuvor den Giro d‘Italia und die Tour de France mit jeweils sechs Etappensiegen gewonnen hatte, vollendete als erst dritter Fahrer die sogenannte „Dreifach-Krone“. Das Triple aus Giro, Tour und WM war zuvor nur Merckx (1974) und dem Iren Stephen Roche (1987) gelungen.
Pogacars Siegeszug ist längst nicht beendet. Das Regenbogentrikot wird er erstmals am kommenden Samstag beim Giro dell‘Emilia in Italien tragen. Eine Woche später peilt er seinen vierten Erfolg beim Rad-Monument Lombardei-Rundfahrt an. Und dann?
Welche Rekorde bleiben noch?
Die Saison 2024 wird selbst Pogacar kaum wiederholen können: Das erste Giro-Tour-Double seit 1998, der erste WM-Titel, dazu dominante Siege bei Lüttich-Bastogne-Lüttich oder der Strade Bianche stehen für ein herausragendes Jahr. Und doch gibt es noch Ziele zu erreichen und Rekorde zu brechen. Der fehlende Sieg bei Mailand-Sanremo wurmt Pogacar, den Olympiasieg 2028 in L.A. könnte er anpeilen, auch Rekordsieger der Tour de France ist er noch nicht.
Mit erst 26 Jahren hat Pogacar drei Mal die Frankreich-Rundfahrt gewonnen. Bleibt er gesund, ist das vierte Gelbe Trikot im kommenden Sommer realistisch - Merckx, Jacques Anquetil, Bernard Hinault und Miguel Indurain (seit Lance Armstrongs Doping-Sturz wieder geteilte Rekordhalter) wären ihm dann nur noch einen Sieg voraus.
Die Konkurrenz macht sich keine Illusionen. Das Lager des zweimaligen Tour-Champions und großen Pogacar-Widersachers Jonas Vingegaard hegte schon vor der WM Zweifel. „Jonas muss sich steigern. Wenn Jonas auf demselben Level bleibt, wird er Pogacar nicht mehr besiegen“, sagte Sportdirektor Frans Maassen.
Diese Meinung dürfte sich nach Pogacars Wunderfahrt nur verfestigt haben.
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Mit Sport-Informations-Dienst (SID)