Eigentlich wollte Julien Jurdie, Sportdirektor des Radteams Décathlon AG2R, sich in Ruhe auf den anstehenden Klassiker Paris-Roubaix vorbereiten. Doch als er im Fernsehen den Massensturz bei der 4. Etappe der Baskenland-Rundfahrt sah, verschlug es ihm die Sprache.
„Das sind Kriegsmaschinen“
„Jonas Vingegaard und Jay Vine so zu sehen, das tut mir im Herzen weh“, drückte der Franzose im Interview bei RMC Sport sein Mitgefühl nach den schweren Stürzen der beiden Fahrer aus. Vine hatte es dabei am schlimmsten erwischt. Der Australier erlitt sowohl einen Halswirbelbruch als auch Brüche der Brustwirbelsäule, während der Tour-de-France-Sieger von 2023 Vingegaard sich sein Schlüsselbein und mehrere Rippen brach sowie sich an der Lunge verletzte, nachdem mehrere Fahrer in einer scharfen Rechtskurve von der Strecke abgekommen waren.
„Fahrräder sind zwangsläufig zu 110 Prozent optimiert“
Die TV-Bilder, in denen man sah, wie Vingegaard auf einer Trage liegend mit einer angelegten Halskrause abtransportiert wurde, schockierten Jurdie. Dass sich Massenstürze wie dieser in jüngerer Vergangenheit häuften, wundert den 51-Jährigen allerdings nicht. Der Franzose machte unter anderem die auf Geschwindigkeit getrimmten Fahrräder dafür verantwortlich, die er martialisch als „Kriegsmaschinen“ bezeichnete.
„Es ist eine Mischung aus allem. Das Material wird immer leistungsstärker und die Hersteller versuchen, das starrste, schnellste und leichteste Rad zu bauen, trotz der UCI-Regeln“, erklärte Jurdie. „Die Fahrräder sind zwangsläufig zu 110 Prozent optimiert, mit den Reifen, dem Rahmen, den Rädern, dem Vorbau. Das sind Kriegsmaschinen, die sehr, sehr schnell fahren. Die Geschwindigkeit ist eben absolut entscheidend.“
Auch Ralph Denk schaltet sich ein
Jurdie betonte zugleich, dass der Auslöser des Baskenland-Sturzes allem Anschein nach ein menschlicher war („Es muss einen Fehler von einem oder mehreren Fahrern gegeben haben“) - was das Problem aber letztlich nicht relativiert: Die Radsportler setzen sich immer einer Kombination von Risiken aus - die wesentliche Frage ist, ob der Faktor Technik zu hoch geworden ist und was dagegen unternommen werden kann.
Die Sicherheitsdebatte in dem Sport, in dem im vergangenen Jahr Gino Mäder tödlich verunglückte und zuletzt das deutsche Ass Lennard Kämna durch einen Unfall mit einem Auto auf der Intensivstation landete, ist allgegenwärtig. Auch der deutsche Bora-Hansgrohe-Teamchef Ralph Denk schaltete sich am Sonntag ein - und nimmt das Technik-Thema ebenfalls in den Blick.
„Es gibt nicht einen Grund für die Unfälle, sondern viele: Immer schneller werdendes Material und Aerodynamik steht über allem“, sagte er der Bild am Sonntag: „Das ist Fluch und Segen zugleich, denn wir wollen ja Material, das uns schneller macht. Die Etappen sind kürzer als vor 15 Jahren, daher intensiver und hektischer.“
Denk warnt dennoch vor zu weit gehenden Änderungen infolge der Sturzserie: „Man müsste für größtmögliche Sicherheit auf Auto-Rennstrecken fahren, aber das würde dem Radsport die Identität rauben“
Verletzte Fahrer an der Tagesordnung: „Es ist belastend“
Die sich häufenden Stürze lösen bei Teamkollege Jurdie dennoch anwachsende Sorgen aus. „Ich habe einen 13-jährigen Jungen, der mit dem Radfahren anfängt und ich denke, dass es immer noch ziemlich gefährlich ist“, fand Jurdie - schließlich existiere bei Stürzen bei hoher Geschwindigkeit schlichtweg zu wenig Schutz für die Fahrer. „Der Schutz besteht aus einem Stück Stoff und einem Helm. Wenn man also hinfällt, kann es schon mal ziemlich heftig sein.“
„Es ist belastend, einen Fahrer zu sehen, der am Boden liegt und in diesem Zustand ist“, schloss der Franzose ab.
Neben Vingegaard und Vine hatte es mit Remco Evenepoel noch einen weiteren Top-Fahrer hart erwischt. Der Belgier, der wie Vingegaard zum Favoritenkreis der im Sommer anstehenden Tour de France gehört, zog sich ebenfalls einen Schlüsselbeinbruch zu, muss wegen einer Fraktur des Schulterblatts sogar operiert werden. Auch Primoz Roglic war unter den gestürzten Fahrern, gab in der Folge aber Entwarnung, dass es ihm den Umständen entsprechend gut gehe.