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Die DDR entführte ihn, tötete seine Eltern - und dopte ihn zum Weltmeister

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Die DDR entführte ihn, tötete seine Eltern - und dopte ihn zum Weltmeister

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Ein tief verstörendes DDR-Kapitel

Vor 70 Jahren verschleppte das Ost-Regime den damals zweijährigen Jürgen und dessen geflohene Eltern aus West-Berlin. Vater und Mutter wurden hingerichtet, der nichtsahnende Sohn mit Hilfe des Staatsdoping-Systems zum Spitzensportler.
Jürgen Ciezki wurde 1974 Weltmeister im Gewichtheben
Jürgen Ciezki wurde 1974 Weltmeister im Gewichtheben
© IMAGO / ITAR-TASS
mhoffmann
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Vor 70 Jahren verschleppte das Ost-Regime den damals zweijährigen Jürgen und dessen geflohene Eltern aus West-Berlin. Vater und Mutter wurden hingerichtet, der nichtsahnende Sohn mit Hilfe des Staatsdoping-Systems zum Spitzensportler.

Es ist eine der unglaublichsten Geschichten in der Historie des deutschen Sports - und dafür noch immer erstaunlich unbekannt.

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Vor 70 Jahren verschleppte der autoritäre Staatsapparat der DDR einen zweijährigen Jungen aus West-Berlin, nachdem dessen Mutter und Vater aus dem kommunistischen Osten dorthin geflohen waren.

Während seine leiblichen Eltern als Staatsverräter hingerichtet wurden, wurde der nichtsahnende Sohn im Land seiner Entführer zum Spitzensportler und Weltmeister aufgebaut - zum Preis einer folgenschwer geschädigten Gesundheit durch das DDR-Dopingsystem.

Jürgen Ciezki wurde als Kleinkind von der DDR entführt

Jürgen Ciezki hieß der Mann, den ostdeutsche Sportfans seiner Generation als erfolgreichen Gewichtheber kannten - Weltmeister im Stoßen bei der WM 1974 in Manila, Fünfter bei den Olympischen Spielen 1976 in Montreal, vielfacher DDR-Meister sowie EM- und WM-Medaillengewinner.

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Von seiner dramatischen Lebensgeschichte vor seiner Karriere erfuhr Ciezki erst lange nach der Wiedervereinigung, durch eine umfassende Aufarbeitung der DDR-Akten durch den Forschungsverbund SED-Staat an der Freien Universität Berlin: Er wurde geboren als Jürgen Krüger, Sohn des Ehepaars Susanne und Bruno Krüger, das 1954 von der DDR zum Tode verurteilt worden war.

Ciezki bekam auch damals erst den an ihn gerichteten Abschiedsbrief seiner leiblichen Mutter zu lesen - und die ebenso filmreifen wie tief verstörenden Geschehnisse vor seiner Geburt.

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Vater Bruno Krüger: NS-Opfer, Stasi-Täter, Stasi-Opfer

Schon allein die Geschichte von Ciezkis Vater Bruno Krüger liest sich wie ein historisches Romanpanorama der deutschen Kriegs- und Nachkriegsjahre: Geboren im Jahr 1924, von den Nazis wegen „Wehrkraftzersetzung“ ins Zuchthaus Torgau gesperrt, dann aufgrund der sich verschlechternden Kriegslage als Kanonenfutter an die Ostfront geschickt, dort zur Sowjetunion übergelaufen, als Partisan und Übersetzer für ein Kriegsverbrechertribunal eingesetzt - und 1949 als hoffnungsfroher Macher für den jungen sozialistischen Staat in die Heimat zurückgekehrt.

Bruno Krüger wurde in der DDR SED-Mitglied und Kommissar in der später berüchtigten Staatssicherheit, der gelernte Friseur galt bald aber auch im autoritären Staat der Nachkriegszeit als untauglich: Er verstieß gegen Dienstregeln, indem er bei Vernehmung von Häftlingen mehrfach körperlich übergriffig wurde. Außerdem kamen - O-Ton der Akten - „Bekanntschaften mit Frauen, welche kriminell belastet waren (Huren)“ heraus.

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Krüger wurde wegen moralischer Unzuverlässigkeit von der Stasi entlassen und in den Schweriner Stadtrat versetzt, auch dort gab es Konflikte mit Vorgesetzten: Krüger klagte intern Korruption und NS-Verstrickungen von Vorgesetzten an - und floh schließlich in den Westen.

Wie aus den Recherchen der Forschungsstelle der Freien Universität Berlin hervorgeht, folgte ihm Ehefrau Susanne zusammen mit dem gemeinsamen Sohn, obwohl sie damals schon getrennt vom untreuen Gatten lebte: Nach dessen Absetzung erlitt sie Repressalien, wurde von Staatsdienst suspendiert, vernommen und zur Scheidung gedrängt.

Stasi-Agenten verschleppten Vater, Mutter und Kind

In der Frühzeit des Kalten Krieges - vor dem Bau der Berliner Mauer - verfügten die DDR-Oberen eine scharfe Reaktion gegen die Republikflüchtlinge, die im Westen bei BRD- und US-Beamten brisante Interna auspackten, die dem Klassenfeind in den frühen Jahren des Kalten Krieges bei geheimdienstlichen Aktivitäten halfen. Susanne Krüger stellte aus Regime-Sicht unter anderem auch deshalb eine Bedrohung dar, weil sie vor ihrer Flucht den Vorwurf sexueller Belästigung gegen einen hochrangigen Vorgesetzten erhoben hatte - den sie unter Druck zwar zurückgenommen hatte, der aber immer noch aktenkundig war.

Die DDR-Geheimpolizei setzte insgesamt 36 (!) Bedienstete mitsamt des großen Denunziationsapparats der „IMs“ (Inoffiziellen Mitarbeiter) auf die Krügers an - und am 8. Oktober 1954 begann die Vollstreckung der von Staatssekretär Erich Mielke bewilligten Entführung: Der kleine Jürgen wurde von einer Ost-Spionin unter falschem Vorwand bei einer ihn betreuenden Nachbarin der Mutter abgeholt und zurück in den Ostsektor gebracht. Die Entführerin war die neue Freundin von Bruno Krüger, die selbst geflüchtet und verfolgt war, sich durch ihre Tat dann aber einen Neustart im DDR-System ermöglichte. Auch die Mutter der Freundin und eine weitere Verwandte in Diensten der Stasi halfen bei Jürgens Verschleppung.

Bruno Krüger wurde am selben Abend bei einem alkoholgeschwängerten Gaststättenbesuch von mehreren Ex-Kollegen überwältigt und in einem Teppich eingerollt gen Osten verschleppt.

Die unter Schock zurückgelassene Mutter Susanne versuchte noch einige Monate vergeblich, bei den Westbehörden um ihr entführtes Kind zu kämpfen, lehnte auch eine angebotene Ausreise ab, weil sie das eingekesselte Berlin nicht ohne ihr Kind verlassen wollte. Am 16. März 1955 wurde sie selbst von einem DDR-Agenten getäuscht und alkoholisiert oder betäubt mit einem Taxi in den Osten gebracht und dort verhaftet.

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„Die Macht der Arbeiterklasse reicht über alle Grenzen“

Am Ehepaar Krüger wurde in der DDR ein brutales Exempel statuiert, am 4. August 1955 verurteilte sie das oberste Gericht nach eintägiger Verhandlung zum Tode. Vorausgegangen war ein einstimmiges Geheiß des Politbüros um Staatspräsident Wilhelm Pieck, beschlossen bei dessen turnusmäßiger Wochensitzung (die späteren Staatschefs Walter Ulbricht und Erich Honecker fehlten an dem Tag urlaubsbedingt, Ulbricht reichte sein Einverständnis schriftlich nach).

Am 14. September wurde das hinter verschlossenen Türen gefällte Urteil vollstreckt, Bruno und Susanne Krüger wurden - wie damals üblich - in einem alten Dresdner Gerichtsgebäude mit einem Fallbeil aus der NS-Zeit geköpft. Die beiden wurden anonym eingeäschert.

„Jeden Verräter an unserer gerechten Sache ereilt sein verdientes Schicksal“, hieß es im offiziellen Hinrichtungsbefehl: Niemand solle sich je sicher fühlen, „denn die Macht der Arbeiterklasse reicht über alle Grenzen hinaus“. Die Hinrichtungen von „politischen Verbrechern“ (sowie auch Mördern und NS-Verbrechern) vollzog die DDR bis zum Jahr 1981, ab 1968 mit Schusswaffe statt Guillotine.

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Im Jahr 1956 wurde auch noch Sylvester Murau hingerichtet, ein Fluchthelfer der Krügers. Murau wurde von der eigenen Tochter verraten, die später den Generalmajor Albert Schubert heiratete, einen der führenden Schreibtischtäter hinter dem Entführungsterror.

Konsequenzen für die Tat erfuhr keiner

Rechtsstaatliche Konsequenzen für das Staatsverbrechen erfuhr keiner der an der Entführung und Hinrichtung der Krügers beteiligten Personen: Vor Gericht gestellt wurde nach der Wiedervereinigung einzig der am Prozess beteiligte Richter Hans Reinwarth. Er entging im Fall der Krügers einer Verurteilung, nachdem er behauptete, dass ihm eine lebenslängliche Haftstrafe gereicht hätte und von den verstorbenen Richterkollegen überstimmt worden sei. Wegen anderer Fälle von politischer Rechtsbeugung wurde der 1980 pensionierte Reinwarth 1994 zu dreieinhalb Jahren Haft verurteilt.

Auch der Abschiedsbrief von Susanne Krüger an ihren Sohn war trotz allem noch ein Dokument tief verinnerlichter Ideologie. Im Ton einer reuigen Sünderin schrieb sie: „Mein liebes Kind, werde Du deshalb kein Feind der Arbeiterklasse, sondern werde Du ein Kämpfer für die fortschrittliche Menschheit, denn Du bist ein Arbeiterkind.“

Jürgen Ciezki erfuhr erst 2011 vom Schicksal seiner Eltern

Der spätere Jürgen Ciezki wurde in ein Pflegeheim gegeben, von einem Mitarbeiter der DDR-Generalstaatsanwaltschaft adoptiert und bekam einen neuen Namen. Der gelernte Elektroschlosser wurde im Jugendalter als Gewichtheber entdeckt und auch mit staatlich verordnetem Doping hochtrainiert: Er bekam das mittlerweile berühmt-berüchtigte Anabolikum Oral-Turinabol, inklusive detaillierter Regieanweisungen, wann es zwischenzeitlich abzusetzen war, um Dopingtests zu entgehen - unter der haltlosen Versprechung, das Mittel sei gesundheitlich unbedenklich.

Am Ende seiner Karriere erlitt Ciezki Leberschäden, auch Gewebeveränderungen in der Brust wurden ärztlich diagnostiziert. Ciezki, der nach der Wende als Sportlehrer arbeitete, führte in einem Zeitzeugengespräch mit der Freien Universität gesundheitliche Folgeschäden im Alter auf das Doping zurück.

Dem aufgrund seiner sportlichen Erfolge privilegierten Ciezki ging es nach eigenen Angaben in der DDR trotzdem „immer gut“, vom Schicksal seiner leiblichen Eltern erfuhr er erst 2011, mit damals 59 Jahren. Dass die Todesumstände nicht normal waren, konnte Ciezki aus dem Nachlass seiner Adoptivmutter schließen: Aus den Sterbeurkunden ging hervor, dass die beiden am selben Tag aus dem Leben geschieden waren - er ging zunächst von einem Autounfall oder ähnlichem aus.

Jürgen Ciezki, der Berliner Gewichtheber-Szene bis zuletzt verbunden und von Weggefährten seines Vereins Berliner TSC als bescheidener, freundlicher und hilfsbereiter Mann beschrieben, starb am 1. September 2021 mit 69 Jahren.