Über zwölf Goldmedaillen durften sich deutsche Sportlerinnen und Sportler bei den Olympischen Spielen von Paris freuen. Das Team D holte damit mehr Goldmedaillen als bei den vergangenen Sommerspielen in Tokio - das ist die gute Nachricht.
„Erbärmlich für Deutschland“
Die Kehrseite: Die Gesamtbilanz von 33 Mal Edelmetall ist ein Rückschritt und deutscher Negativrekord seit der Wiedervereinigung. Die Enttäuschung ist in vielen Sparten groß, eine Debatte über Mängel im System ist in vollem Gange. Vor allem mit dem Hintergrund einer möglichen deutschen Bewerbung für die Ausrichtung der Olympischen Spiele 2040 fragen sich viele: Kann der Negativtrend im deutschen Spitzensport gestoppt werden - und wenn ja, wie?
Hanning: „Erbärmlich für ein Land wie Deutschland“
Bob Hanning, der ehemalige Vizepräsident des Deutschen Handballbundes und heutige Geschäftsführer der Füchse Berlin, kommt aus einer Sportart, für die es aus deutscher Sicht gut gelaufen ist: Das Männerteam holte Silber. Mit Blick auf die Gesamtbilanz sieht Hanning allerdings allen Grund, den Finger in die Wunde zu legen.
„Wenn man bedenkt, wie viele Medaillen wir bei den vergangenen Spielen gewonnen haben, ist das natürlich erbärmlich für ein Land wie Deutschland“, sagt Hanning im Gespräch mit SPORT1. Hanning fordert ein anderes Selbstverständnis: „Wir müssen anfangen, uns nicht kleiner zu machen, als wir sind, und mal 70 Medaillen anpeilen.“
Was dafür getan werden müsse? Es hänge nicht an den Athletinnen und Athleten, die der als streitbar wohlbekannte 56-Jährige in Schutz nimmt. Vielmehr gebe es massive Probleme in den Strukturen der deutschen Sportförderung.
„Die Italiener bekommen 180.000 Euro für eine Goldmedaille. Der deutsche Kanute bekommt 20.000 Euro und muss seine Reisen zu den Wettkämpfen teilweise auch noch selbst bezahlen. Da geht es primär gar nicht um Wertschätzung in Form von Geld, sondern um die Entwicklung der Sportler“, erklärt Hanning.
Passend dazu verglich Schwimm-Weltmeisterin Angelina Köhler die Prämien für deutsche Olympia-Sportler mit einer TV-Show.
„Ich finde, es kann nicht sein, dass Leute beim ‚Sommerhaus der Stars‘ 50.000 Euro gewinnen und Athleten, die eine Goldmedaille bei Olympischen Spielen gewinnen, nur 20.000 Euro“, sagte die 23-Jährige bei der dpa. „Wir trainieren unser ganzes Leben dafür. Wir trainieren zehnmal die Woche und ich finde, es kann nicht sein, dass die Prämien so wenig sind.“
Ruder-Olympiasieger: „Leistung wird abgestraft“
Bei SPORT1 kritisiert auch Oliver Zeidler, der frisch gebackene Goldmedaillengewinner im Ruder-Einer, der parallel zu seiner Sportlerkarriere noch in Vollzeit arbeitet, die finanzielle Förderung von deutschen Spitzensportlern - und macht auf weitere Schwächen des Systems aufmerksam.
„Wenn ich selbst zu viel Geld verdiene, fällt von einem Euro auf den anderen meine komplette Sportförderung weg. Ich finde es etwas ernüchternd, dass wir Leistung abstrafen“, meint der 28-Jährige, der als Unternehmensberater tätig ist.
Für Zeidler hat die lähmende Bürokratie ebenfalls einen negativen Einfluss auf den Sport in Deutschland. „Es ist viel zu viel Aufwand, Geld zu beantragen - auch für die Verbände. Im Sport muss man schnell sein. Da muss man schnell reagieren können. Wenn ein Verband Monate lang auf die Mittel wartet, dann kann das nicht funktionieren“, findet er.
Den Ruderer wundert es nicht, dass deutsche Medaillengewinner wie Leo Neugebauer und Gina Lückenkemper für bessere Trainingsbedingungen längst in die USA gezogen sind. „In den USA gibt eine Uni mehr Geld aus für Sportförderung als ganz Deutschland. Das ist einfach überhaupt nicht vergleichbar“, sagt Zeidler.
Bob Hanning fordert deshalb ein komplettes Umdenken: „Jeder angestellte Banker verdient mehr als der Trainer, der uns zum Olympiasieg führen soll.“
Sanierungsstau bei deutschen Sportstätten
Auch an den deutschen Sportstätten wurde in den vergangenen Jahrzehnten vor allem eins: gespart. DOSB-Präsident Thomas Weikert schätzte den Sanierungsstau im vergangenen April auf 31 Milliarden Euro.
Für Hanning ist die Situation ein Unding: „Wir haben in Deutschland viel zu wenige Sportanlagen. Das ist ein maximales Missmanagement. Bei den Olympiastützpunkten wurde alles gekürzt.“ Man könne in den Stützpunkten aber gleichzeitig Geld einsparen, wenn man diese zusammenlegen würde. „Wir müssen die guten Leute viel mehr zusammenziehen“, fordert der ehemalige Co-Trainer der deutschen Handball-Nationalmannschaft. Dafür müsse man auch von den Sportlern die Bereitschaft verlangen, ihren Lebensmittelpunkt zu verlegen.
„Wenn ich Spitzensportler sein will, muss ich auch mal in eine Stadt ziehen, die mir vielleicht weniger gefällt“, fügt Hanning an. Überhaupt gehört Hanning zu denen, die finden, dass das Leistungsprinzip in Sport und Gesellschaft wieder mehr Gewicht haben sollte: „Wir können nicht aus der Work-Life-Balance das Wort ‚Work‘ streichen. So funktioniert Spitzensport nicht“, sagt der langjährige Handballtrainer. Auch Druck gehöre im Spitzensport ganz einfach dazu.
„Der Westen hat sich arrogant über den Osten hergemacht“
Ähnliche Gedanken äußerte im Spiegel zuletzt der frühere Biathlon-Bundestrainer und heutige SPD-Sportpolitiker Frank Ullrich. Hanning lenkt den Blick im Zusammenhang mit den Strukturfragen auch auf die Sportförderung im System der ehemaligen DDR, dem Ullrich entstammt.
Der gebürtige Essener Hanning findet, dass - trotz aller dunklen Schatten, die das staatlich organisierte Doping dort den Athletinnen, Athleten und dem Ruf des Sports angetan hat - ein differenzierterer Umgang mit dem Ost-Erbe nötig sei: „Dass man das dortige Sport-System zerstört hat, war mir damals schon ein Dorn im Auge. Der Westen hat sich arrogant über den Osten hergemacht und die Erfolge des DDR-Sports auf Doping reduziert, statt die Themenfelder genauer zu beleuchten. Das hat dem gesamtdeutschen Sport massiv geschadet.“
Dazu passt, was Schwimmer Florian Wellbrock im SPORT1-Interview vor Olympia über den Erfolgsstandort Magdeburg gesagt hat: „Wir profitieren hier immer noch von der Infrastruktur aus der DDR.“ Die kurzen Wege zwischen Schule, der Unterbringung im Sportinternat und den Sportstätten seien enorm hilfreich bei der Nachwuchsentwicklung und würden wertvolle Grundlagen schaffen.
Erhalten deutsche Spitzensportler zu wenig Aufmerksamkeit?
Oft wird auch über ein angeblich mangelndes Interesse der Gesellschaft an den olympischen Sportarten abseits der Spiele diskutiert. So beschwerte sich bereits die deutsche Weitsprung-Silbermedaillengewinnerin Malaika Mihambo im Gespräch mit der Welt darüber, dass in Deutschland immer wieder der Fußball im Mittelpunkt stehe.
Olympiasieger Zeidler stimmt zu: „Ich würde mir abseits der Olympischen Spiele etwas mehr Aufmerksamkeit durch die Medien wünschen. Ich verstehe nicht, weshalb im Fernsehen viertklassige Fußballspiele anstatt einer Weltcup-Regatta gezeigt werden“, sagt er. „Solche Medienpräsenzen wären von enormer Bedeutung für uns Sportler, da sie unser Engagement würdigen und mehr Möglichkeiten der Vermarktung bieten.“
Hinzu käme, dass die deutsche Gesellschaft schlechte Ergebnisse umso härter bestrafen würde. „Wenn es nicht läuft, dann meckern alle. Dass für den Erfolg viel Zeit und Arbeit investiert werden musste, sehen die Leute nicht“, klagt Zeidler. Zudem werde nicht wahrgenommen, dass Sportler im Wettbewerb alles geben.
Eigene Olympische Spiele als Hoffnungsschimmer?
Ergibt bei all den Problemen eine mögliche Bewerbung für die Sommerspiele 2040 überhaupt Sinn?
Hanning kann genau dieser Idee einiges abgewinnen. „Wir haben jetzt eine Chance auf die eigenen Olympischen Spiele. Wir haben dann zwölf Jahre Zeit, dafür zu sorgen, dass wir keine zwölf Goldmedaillen, sondern 30 Goldmedaillen holen“, erklärt der Sportfunktionär.
Mit einem Widerstand aus der Bevölkerung - ähnlich wie bei gescheiterten Bewerbungsversuchen für Hamburg oder München - rechnet er dabei nicht: „Paris hat gezeigt, dass Olympische Spiele eine unfassbare schöne Party sein können, die auch nachhaltig funktioniert hat.“