Olympia ist, wenn du Tischtennis guckst und plötzlich Zinédine Zidane neben dir auf der Tribüne sitzt. Die Zuschauer in der Arena Paris Sud 4 staunten nicht schlecht, als am Mittwochnachmittag die französische Fußballlegende auftauchte - zunächst begleitet von einigen Sicherheitsleuten, klar, aber letztlich doch mitten unter ihnen.
Ein Feiertag fürs Tischtennis
Der Anlass seines Besuchs: das Achtelfinale des olympischen Turniers zwischen dem 17 Jahre jungen französischen Shootingstar Félix Lebrun und Dimitrij Ovtcharov. Beinahe hätte sich „Zizou“ als Glücksbringer für die letzte verbliebene deutsche Einzel-Medaillenhoffnung erwiesen, denn bei seiner Ankunft lag Ovtcharov mit 0:3 Sätzen zurück, wenig später stand es auf einmal 3:3 - und einige französische Zuschauer scherzten vor dem entscheidenden siebten Satz bereits, Zidane solle die Halle doch bitte schnellstmöglich wieder verlassen.
Dann aber zeigte Lebrun, warum er in jungen Jahren bereits als bester Nicht-Chinese auf Rang 5 der Weltrangliste geführt wird, gewann den finalen Durchgang mit 11:7 und zog unter dem tosenden Applaus von tausenden seiner Landsleute ins Viertelfinale ein. Laut einer Messung des französischen Wochenmagazins Le Point betrug die Lautstärke beim Matchball satte 116 Dezibel, was irgendwo zwischen einem Rockkonzert und einem Formel-1-Rennen anzusiedeln sei.
Zidane von Lebrun begeistert
Ohnehin: Die Stimmung in der mit rund 6600 Zuschauern bis auf den letzten Platz gefüllten Arena glich von der ersten Sekunde an einem Hexenkessel, immer wieder hallten „Allez Félix“-Rufe durch die Halle, mehrfach wurde die französische Nationalhymne angestimmt - was für die Spielerinnen und Spieler an den anderen drei Tischen durchaus eine Herausforderung darstellte, für die Außendarstellung des Sports bei diesen Olympischen Spielen aber natürlich ein Glücksfall ist.
„Es macht mich stolz, zur Entwicklung des Tischtennis beitragen zu können. Es ist ein toller Sport zum Zuschauen und ich habe das Gefühl, dass es den Leuten viel Freude bereitet“, meinte LeBrun nach dem Spiel: „Ich denke, das macht vielen Leuten Lust, selbst mit Tischtennis anzufangen.“
Und dass sogar Zidane vorbeigekommen war, um ihn spielen zu sehen? „Ich wusste es während des Spiels nicht, aber danach hat es mir jeder erzählt. Das freut mich sehr, dass Leute wie er unseren Sport anschauen“, schwärmte Lebrun - und verwies auch darauf, dass tags zuvor bereits der US-amerikanische NBA-Profi Anthony Edwards begeistert in der Halle mitgefiebert hatte: „Das bedeutet, dass sich ein großes Publikum dafür interessiert - und dass sich auch renommierte Sportler dafür interessieren, wird sicherlich helfen, unseren Sport voranzubringen.“
Guter Tag für den Tischtennis-Sport
Auch der deutsche Bundestrainer Jörg Roßkopf sagte auf SPORT1-Nachfrage, es sei „natürlich eine Auszeichnung für die Sportart“, dass derartige Persönlichkeiten die Spiele besuchten. Allzu überrascht war er davon allerdings nicht. „Es kommen viele Stars zum Tischtennis, schauen sich gerne Tischtennis an, weil auch viele Tischtennis spielen“, erklärte der Doppel-Weltmeister von 1989: „Wir haben weltweit, vor allem in Asien, diese große Anerkennung, deswegen sitzen da auch wirklich immer sehr große Leute.“
Zinédine Zidane kann sich ja nicht irren - und doch fristet Tischtennis in Europa meist eher ein Schattendasein. Was auch daran liegen mag, dass die ganz großen Titel seit Jahrzehnten für die chinesischen Sportler reserviert sind. Seit 2008 gingen Gold und Silber bei Olympia immer nach China. „Es ist natürlich langweilig, wenn immer die Chinesen gewinnen und alleine die Finals bestreiten“, gab Tischtennis-Legende Panagiotis Gionis, sechsmaliger Olympia-Teilnehmer für Griechenland, im Gespräch mit SPORT1 offen zu.
Und insofern war der Mittwoch in Paris nicht nur wegen des Besuchs von Zinédine Zidane ein guter Tag für den Tischtennis-Sport, sondern auch wegen einer der größten Überraschungen der vergangenen Jahre, vielleicht sogar Jahrzehnte: Bereits am Vormittag hatte die unangefochtene Nummer 1 der Welt, der Chinese Wang Chuqin, sensationell mit 2:4 gegen den Schweden Truls Möregardh den Kürzeren gezogen.
„Das ist gut fürs Turnier“, meinte Roßkopf: „Wir haben gewusst, dass keiner der Spieler gerne in der zweiten Runde gegen Truls spielt, obwohl Wang Quhin ja, glaube ich, bis jetzt erst drei Sätze gegen ihn verloren hat in acht Duellen.“
Europäer können Chinesen schlagen
Auch Gionis lobte die Fähigkeiten von Möregardh, der „ein großartiger Spieler“ sei - und freute sich über das Ausrufezeichen in Richtung der chinesischen Tischtennis-Übermacht: „Ich denke, es ist bei diesen Olympischen Spielen an der Zeit, dass die Medaillen mehr europäisch als chinesisch sind.“
Die wohl größten Hoffnungen, den ersten nicht-chinesischen Olympiasieger seit 2004 (Seung-Min Ryu, Südkorea) und den ersten europäischen Olympiasieger seit 1992 (Jan-Ove Waldner, Schweden) erleben zu können, ruhen spätestens nach seinem Krimisieg gegen Ovtcharov wohl auf den Schultern von Lebrun - auch wenn dieser in der anderen Hälfte des Tableaus spielt und nun nach seinem Viertelfinalsieg gegen Lin Yun-Ju aus Taiwan bereits im Halbfinale auf den zweiten Chinesen Fan Zhendong trifft, der 2021 in Tokio Silber gewann.
Lust und Zuversicht strahlt der 17-Jährige, der sogar Zidane begeistert, jedenfalls aus - und Möregardhs Coup hat sein Selbstvertrauen nur noch wachsen lassen.
„Ich finde das supercool, dass das europäische Tischtennis, in dem Fall Truls, in der Lage ist, die Nummer 1 der Welt in einem großen Turnier über vier Gewinnsätze schlagen zu können“, jubelte er nach dem Duell mit Ovtcharov und betonte: „Das ist eine große Sache für uns, für jeden, weil es einem den Glauben gibt, dass sie nicht unschlagbar sind.“