Jürgen Hingsen ist einer der deutschen Sport-Heroen aus den 1980er Jahren - der allerdings mit einem großen Makel behaftet ist.
Historischer Fauxpas eines Unvollendeten
Der heute 66-Jährige knackte in seiner Zeit als Zehnkämpfer drei Weltrekorde, blieb in den entscheidenden Wettkämpfen aber immer hinter seinem Dauerrivalen Daley Thompson.
Bei den Olympischen Spielen 1988 leistete sich Hingsen zudem einen Fauxpas, der in die deutsche Sportgeschichte einging. Nach drei Fehlstarts über 100 Meter war der Zehnkampf in Seoul für ihn vorbei, noch ehe er begonnen hatte.
Bei SPORT1 erinnert sich der Zwei-Meter-Mann an Hochs und Tiefs in seiner Karriere - und er schätzt die Olympiachancen seiner Nachfolger Leo Neugebauer und Niklas Kaul ein.
SPORT1: Herr Hingsen, vor ziemlich genau 40 Jahren fanden die Olympischen Spiele in Los Angeles statt - ein Event, das die Spiele davor an Gigantismus weit übertrafen. Wie haben Sie die Spiele 1984 in Erinnerung?
Jürgen Hingsen: Gigantisch ist das richtige Wort, das fing schon mit dem Raketenmann bei der Eröffnungsfeier an. Wir hatten fast 100.000 Zuschauer im Stadion, das war sehr beeindruckend. Ich war nicht im Olympischen Dorf, sondern bin kurzfristig aus Santa Barbara angereist, weil ich dort meine zweite Heimat hatte. Ich wollte dem Trubel aus dem Weg gehen. Als der Zehnkampf früh um neun Uhr mit den 100 Metern startete, waren schon 60.000 Zuschauer da. Das war schon ziemlich beeindruckend.
SPORT1: Ist mit der Zuschauerzahl auch Ihre Anspannung gestiegen?
Hingsen: Auf jeden Fall! Olympia ist etwas ganz anderes als die anderen Wettkämpfe. Ich hatte das Problem, dass ich für Moskau 1980 qualifiziert war, dann aber der Boykott stattgefunden hat. Dadurch konnte ich nicht die Erfahrungen nach Los Angeles mitnehmen – im Gegensatz zu Daley Thompson. Der wurde schon 1980 Olympiasieger, weil die Engländer die Spiele nicht boykottiert hatten. Dadurch hatte er die nötige Erfahrung, was solch große Wettkämpfe angeht.
„Die Spritze ist mir voll auf den Kreislauf geschlagen“
SPORT1: Dennoch: Im Vorfeld von Los Angeles hatten Sie den Weltrekord gebrochen und gingen als Favorit an den Start.
Hingsen: Ja, aber leider Gottes hatte ich in Deutschland mit Guido Kratschmer und Siggi Wentz hochkarätige Konkurrenz und ich musste mich erst qualifizieren. Dass ich bei dem Wettkampf den Weltrekord geknackt habe, war taktisch nicht so gut. Andererseits machst du bei der starken Konkurrenz mit angezogener Handbremse keinen Zehnkampf. Dann ist man automatisch in der Favoritenposition.
SPORT1: Wie ist der Wettkampf in Los Angeles dann gelaufen?
Hingsen: Zunächst gut, im Hochsprung hatte ich aber Probleme an der Patellasehne, auch wenn ich noch über 2,12 Meter gesprungen bin. Am zweiten Tag tat die Sehne dann so weh, dass ich vor dem Stabhochsprung nochmal eine Spritze bekam – und die ist mir dann voll auf den Kreislauf geschlagen. In Verbindung mit der extremen Hitze war dann die ganze Koordination weg. Am Ende musste ich froh sein, die Einstiegshöhe von 4,50 Meter geschafft zu haben.
SPORT1: Damit war die Hoffnung auf die Goldmedaille dahin, oder?
Hingsen: Nach dem Stabhochsprung war ich fast 200 Punkte hinter Thompson, da war ich am Ende froh, dass ich überhaupt noch eine Medaille nach Hause gebracht habe.
SPORT1: Wie war damals der Kontakt zu ihrem Erzrivalen Thompson?
Hingsen: Ein angespannter, sagen wir mal so. Er war im Vorfeld bekannt für seine Sprüche, die waren nicht ohne! Er hat versucht, einen aus dem Konzept zu bringen und die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Thompson war ein kleines Enfant Terrible. Von ihm kam auch der Name „Hollywood-Hingsen“.
„Ich wollte nur noch aus dem Stadion raus“
SPORT1: Vier Jahre später in Seoul kam es dann zum legendären Fauxpas, als Sie nach drei Fehlstarts beim 100-Meter-Rennen den Wettkampf beenden mussten, bevor er überhaupt begonnen hatte. Was ging da in Ihnen vor?
Hingsen: Ich wollte nur noch aus dem Stadion raus. Ich war im Vorfeld wegen meiner Patellasehne, die sehr entzündet war, in intensiver Behandlung. Ich hätte zum Beispiel aufgrund der Schmerzen nur einen einzigen Versuch beim Hochsprung nehmen können – und hätte das anderweitig kompensieren müssen. Dadurch kamen auch die Fehlstarts zustande, weil wir wechselnde Winde hatten und ich bei der „Fertig“-Position schon merkte, dass mir die Sehne wehtat. Dann ist das mit den drei Fehlstarts passiert. Das war äußerst unschön und keiner hat‘s verstanden.
SPORT1: Hat Sie das noch lange verfolgt?
Hingsen: Ja, das hat mich sehr lange verfolgt. Es war ein echtes Trauma.
SPORT1: Sie hatten sich bei der deutschen Öffentlichkeit dafür sogar entschuldigt…
Hingsen: Ja, bei Günther Jauch habe ich versucht, meine Sicht der Dinge darzustellen und habe nichts verheimlicht – aber dennoch gab es Mutmaßungen, die sehr unschön waren.
SPORT1: Haben Sie wegen des Seoul-Fiaskos ihre Karriere danach beendet?
Hingsen: Nein, ich hätte operiert werden müssen. Man hätte mir das Knie aufschneiden müssen und ich war 30 Jahre alt. Deswegen habe ich meine sportliche Karriere beendet.
„Neugebauer ist für mich der klare Favorit“
SPORT1: Hatten Sie im Nachgang das Gefühl, ein Unvollendeter im Zehnkampf gewesen zu sein?
Hingsen: Klar hatte ich das Gefühl, unvollendet zu sein. Die 80er Jahre waren eine ganz andere Zeit. Wenn ich den Bezug zu Leo Neugebauer nehme, der unter optimalen Bedingungen trainieren kann: Wir hatten damals noch nicht einmal eine eigene Halle, wo wir Stabhochspringen konnten. Ich hatte einen Heim-Trainer, der versuchte hat, alles zu machen und sich gesträubt hat, wenn ich mal einen Spezialisten-Trainer dazuholen wollte. Das war immer ein Kampf mit ihm. Vom Potenzial her hatte ich locker 9000 Punkte drauf. Das, was Leo Neugebauer erreicht hat, hätte ich schon damals schaffen können. Ich hätte damals nach Leverkusen gehen müssen, weil da auch die Spezialisten-Trainer waren.
SPORT1: Apropos Neugebauer: Was trauen Sie ihm in Paris zu?
Hingsen: Es ist starke Konkurrenz am Start, wie der Este Johannes Erm. Auch Weltrekordler Kevin Mayer wird im eigenen Land etwas draufpacken. Leo hat im Vorfeld natürlich einen fantastischen Wettkampf in Texas hingelegt, aber in Paris wird es andere Rahmenbedingungen geben.
SPORT1: Inwiefern?
Hingsen: Von der Athletik her ist er ähnlich wie ich, zwei Meter groß und 110 Kilo schwer. Man hat es in Budapest gesehen, da hat er aufgrund der Zeitspannen zwischen den Disziplinen ziemlich Substanz lassen müssen. In Texas war der Zehnkampf viel komprimierter. Bei Olympia muss er sich nach jeder Disziplin zurücknehmen und neu motivieren, das ist schon sehr anstrengend. Auch die Hitze kann eine Rolle spielen, bei seiner großen Körperfläche ist das nicht ohne. Trotzdem ist er für mich der klare Favorit, er hat sogar noch Potenzial nach oben. Wenn er es abrufen kann, dann kann er das Ding gewinnen. Die Erfahrung von Budapest, wo er einen kleinen Fehlstart in den zweiten Tag hatte, wird ihm dabei helfen.
SPORT1: Was trauen Sie Niklas Kaul zu?
Hingsen: Auch ihm traue ich eine Menge zu. Er ist sehr stabil, was er auch bei der EM in Rom gezeigt hat, wo er nach Platz 11 am ersten Tag noch Vierter wurde. Seine stärksten Disziplinen kommen am Ende mit dem Speerwurf und den 1500 Metern.