Er sorgte zuletzt während der NBA-Finals mit seiner Kritik an Superstar Luka Doncic für Aufsehen, begleitet LeBron James‘ Karriere schon seit Highschool-Zeiten und ist in den USA einer der bekanntesten Basketball-Experten: ESPN-Reporter Brian Windhorst kennt die NBA-Stars wie kaum ein anderer und berichtet aktuell von der Gold-Mission des US-Teams bei den Olympischen Spielen in Paris.
Schröder? „Eine unglaubliche Waffe“
Im SPORT1-Interview spricht er über die Aussichten des Star-Ensembles, analysiert die Stärken des deutschen Teams, verrät seine Meinung zu Dennis Schröder, Franz Wagner und Dirk Nowitzki - und legt gegen Doncic nach.
SPORT1: Herr Windhorst, wie haben Sie das US-Basketballteam in den vergangenen Tagen und Wochen wahrgenommen?
Brian Windhorst: Sie sind unglaublich, wirklich unglaublich talentiert - aber sie haben keine gute Teamchemie. Sie verstehen sich untereinander, aber diese Gruppe hat so einfach noch nicht oft zusammengespielt. Die Leute in den USA denken, da sind acht künftige Hall-of-Famer dabei, also müssen sie großartig sein. Aber sie müssen ohne viel Vorbereitungszeit zusammenspielen. Sie haben am meisten Talent, sie haben den tiefsten Kader, sie sollten absolut der Favorit sein - aber sie werden nicht das beste Team sein. Falls sie gewinnen sollten, dann wegen ihrer individuellen Qualität und der Bereitschaft, sich für den Erfolg aufzuopfern.
SPORT1: LeBron James mit seinen 39 Jahren zu erleben, ist immer wieder beeindruckend. Ist es noch genauso imposant, wenn man ihn jeden Tag bei der Arbeit sieht?
Windhorst: Wissen Sie, wer es auch beeindruckend findet? Seine eigenen Teamkollegen! Es war faszinierend zu sehen, wie er die beiden Vorbereitungsspiele in London an sich gerissen hat. Die Fans waren begeistert, weil viele Leute dort im Publikum sonst nie eine Chance haben, ihn live spielen zu sehen. Aber die Reaktion seiner Teamkollegen? Viele von ihnen sind damit aufgewachsen, ihm zuzuschauen und trotzdem ist es für sie immer noch faszinierend. Wenn man ihn bei den Lakers sieht, dann merkt man, dass er es nicht mehr jeden Tag abrufen kann. Aber wenn er entscheidet, auf dem höchsten Level zu spielen, dann ist er außergewöhnlich - und er hat entschieden, jetzt gerade auf dem höchsten Level spielen zu wollen.
„Deutschland ist der Inbegriff einer Mannschaft“
SPORT1: Deutschland geht als Weltmeister ins olympische Turnier. Wie schätzen Sie das Team von Gordon Herbert ein?
Windhorst: Deutschland spielt als Team brillant zusammen. Sie spielen sehr smart und haben ihren Dreijahresplan perfekt umgesetzt. Sie teilen den Ball, sie opfern sich füreinander auf, sie befolgen den Gameplan, sie jagen freien Bällen hinterher - sie sind der Inbegriff einer Mannschaft.
SPORT1: Es gibt ja diese kleine Debatte, wer im Basketball der wahre „World Champion“ ist. Ist das aktuell eher Deutschland oder sind es die Boston Celtics?
Windhorst: Spielt Deutschland direkt nach den Finals gegen die Boston Celtics? Falls ja, dann würden die Celtics gewinnen. Spielt Deutschland gegen eine zusammengewürfelte Mannschaft aus NBA-Spielern, die erst seit zwei Wochen so zusammen sind? Dann haben sie vielleicht eine gute Chance. Die Menschen haben die Bedeutung des Wortes „Team“ aus den Augen verloren. Aber das Team ist der Schlüssel. Waren die Deutschen letztes Jahr ein besseres Team als die USA? Ja. Haben die Deutschen ein besseres Team als die Mannschaft der Boston Celtics? Nein. Die Leute freuen sich bei dem Thema natürlich, wenn sie einen Hot Take in die eine oder andere Richtung loswerden können - aber ich glaube, wenn Sie die Spieler im deutschen Team fragen würden und sie ehrlich antworten würden, dann würde die Antwort „Boston Celtics“ lauten.
Schröder? „Eine faszinierende Karriere“
SPORT1: Dennis Schröder ist der Anführer der deutschen Weltmeister-Mannschaft. Wie sehen Sie seine Entwicklung?
Windhorst: Eine faszinierende Karriere! In London haben die deutschen Fans MVP-Gesänge angestimmt, wenn er an der Freiwurflinie war. In der NBA hätte Schröder solche Gesänge nie bekommen, aber in dem Fall war es vollkommen zu Recht: Er ist tatsächlich der MVP! Er spielt mit so viel Speed, dass es auf jeglicher Basketball-Bühne eine unglaubliche Waffe ist. Und wissen Sie was? Die Lakers haben ihn letztes Jahr wirklich vermisst! Die Sache bei Schröder ist: Manchmal bringt er einen zur Verzweiflung, aber meistens ist man besser dran, wenn man ihn hat.
SPORT1: Sein Nationalmannschaftskollege Franz Wagner hat einen großen Vertrag bei den Orlando Magic unterschrieben. Wie weit kann er es in der NBA bringen?
Windhorst: Es war ein bisschen überraschend, dass er diesen Vertrag (über mindestens 224 Millionen US-Dollar für fünf Jahre, Anm. d. Red.) bekommen hat, weil er nicht sein bestes Jahr hatte, auch wenn die Magic insgesamt viel besser gespielt haben. Er hat alle Voraussetzungen, um ein großartiger Spieler zu werden: Er ist als Flügelspieler 2,08 Meter groß, ist dynamisch mit und ohne Ball, kann rebounden und ist einfach insgesamt unglaublich talentiert. Außerdem hat er kein großes Ego, das ist von großem Vorteil. Nur: Er muss besser werfen! Wenn er seinen Wurf wiederfindet, dann ist vieles möglich - und die Magic glauben ganz offensichtlich an ihn.
Nowitzki? „Dieser Titel bleibt unglaublich beeindruckend“
SPORT1: Vorerst bleibt allerdings Dirk Nowitzki der größte Deutsche, den es in der NBA jemals gab. Wie wird er in den USA mit etwas Abstand seit seinem Karriereende gesehen?
Windhorst: Nun, er hat eine Statue vor der Arena in Dallas - und wenn du eine Statue hast, dann lebt deine Legende für immer. Die Meisterschaft 2011 (gegen die Miami Heat um LeBron James, Anm. d. Red.) war eine der größten Leistungen in der modernen NBA! Und je mehr Jahre vergehen, desto beeindruckender wird dieser Titel, insbesondere wenn man sieht, wie LeBron immer weitere Auszeichnungen einsammelt. Alle Meisterschaften sind sehr wertvoll, aber nicht alle sind genau gleichwertig. Dieser Titel bleibt unglaublich beeindruckend und die Rolle, die er dabei gespielt hat, war natürlich fantastisch.
SPORT1: Gegenüber seinem Nachfolger Luka Doncic waren Sie während der NBA-Finals sehr kritisch. Was fehlt ihm, um mit den Mavericks dasselbe erreichen zu können wie Nowitzki?
Windhorst: Du kannst es dir einfach nicht erlauben, in Must-win-Spielen vom Platz zu fliegen. Da gibt es für mich auch keine Diskussion. Ich verstehe, dass die Luka-Fans ihren Lieblingsspieler in Schutz nehmen wollen, und das ist vollkommen in Ordnung für mich. Aber ich habe gesehen, wie er bei der EM vorzeitig runter musste und sein Team anschließend verloren hat und ausgeschieden ist. Ich habe gesehen, wie er bei der WM des Feldes verwiesen wurde, weil er sich total verrückt benommen hat, und sein Team ausgeschieden ist. Und in den Finals war es auch ein Alles-oder-Nichts-Spiel, denn wenn du erst mal 0:3 hinten liegst, dann war es das. Das weiß er und jeder andere weiß das auch - und trotzdem fliegt er wieder vom Platz. Das ist keine kontroverse Meinung. Sein Temperament steht ihm im Weg - und niemand, der wirklich etwas von Basketball versteht, hat dazu eine andere Meinung.